Sanssouci: Nachschlag
■ Neues vom Prenzlauer Berg im "Cafe Clara"
„Der Prenzlauer Berg ist tot, es lebe der Prenzlauer Berg!“ Um diese rückblickende wie programmatische Aussage dem Publikum zur Prüfung vorzulegen, hatte die Gesellschaft zur Pflege und Förderung von Poesie „Orplid“ am Dienstag und Mittwoch abend ins Café Clara eingeladen. Adolf Endler hob in seiner kurzen Eröffnungsansprache hervor, daß unter den Autoren keine Inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes zu finden seien. „Abwarten!“ wurde ihm aus dem überfüllten Raum entgegengerufen, und bitterböse Lacher folgten.
Diese Reaktion zeigte sehr deutlich, wie die Enthüllungen des letzten Herbstes die Szene um die Literaten des Prenzlauer Bergs erschüttert haben. Und auch wenn Endler ein wenig hilflos darauf hinwies, daß es unter den zwanzig bis dreißig Dichtern, die diesem Kreis zuzurechnen seien, ja nur zwei IMs gegeben habe, so bleibt das als unabänderlicher Fakt stehen. Zwei sind eben zwei zuviel.
Trotzdem – die Szene lebt, und sie zeigte sich am ersten Abend in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit. „Die Literatur des Prenzlauer Bergs hat es nie gegeben“, stellte Peter Böthig, einer der Organisatoren, noch einmal richtig, deshalb werde das klassische Motto der Veranstaltung auch ironisch und gegen Pauschalurteile gerichtet begriffen.
Alle Autoren lasen neue, zum Teil noch unveröffentlichte Texte aus dem letzten Jahr. Darunter waren Gedichte von Elke Erb, ein noch im Entwurf befindlicher Prosatext von Johannes Jansen über einen alltäglichen Zeitgenossen Hans Hiob (Hans wie Glück, Hiob wie Unglück), „Legendenkränze“ von Andreas Koziol und eine scharfe Satire von Bert Papenfuß-Gorek „Bericht über ein Gedächtnis-Schedlinsky-Schau-Saufen“.
Während die im ersten Teil gelesenen Arbeiten meist in dröger Ernsthaftigkeit und schwer zu entschlüsselnder Gewichtigkeit versanken, lockerte sich mit Peter Wawerzinek, der sich zuletzt präsentierte, die Stimmung merklich auf. Er gab den Text zum besten, mit dem er sich – wieder einmal und wahrscheinlich wieder erfolglos – in Darmstadt um ein begehrtes Arbeitsstipendium beworben hat. Sein in der Ich-Form abgefaßter Text beschreibt das Leben eines Jungen, der seine Umwelt treuherzig- naiv wahrnimmt und Ereignisse in simplen Kausalzusammenhängen begreift. „Meine Mutter, die meinen Vater oft an der Brust hatte, stieß orgiastische Laute aus, worauf mein Vater mit voller Wucht gegen den Kachelofen prallte.“ Oder: „Meine Banknachbarin in der ersten Klasse war ganz aus Papier. Beim ersten Luftzug wurde sie durchs Fenster davongeweht.“ Kernsatz des Textes die verwunderte Aussage: „Man wird mit der Zeit immer unschuldiger.“
Nach seiner Lesung zeigte Wawerzinek, wie fit er auch körperlich ist, und vollführte mehrere Liegestütze. Das Publikum reagierte mit Gelächter, und mein Nachbar klärte mich auf: „Das ist normal, das macht der immer.“ burk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen