Sanssouci: Vorschlag I
■ Jahreswechsel – Kneipenwechsel
Silvester ist das schönste Fest; viel besser als Geburtstag oder Weihnachten, denn das Versprechen eines neuen Jahres wendet sich an alle, nicht nur an einzelne. So überlegt der einzelne, wie er sich an diesem Tag am besten mit den anderen verbindet. In der Wartezeit des Nachmittags geht man beispielsweise bis 18 Uhr ins „Andere Ufer“ in der Hauptstraße, um eher beiläufig Zeitung zu lesen und hinter den Journalen zu beobachten, wie sich die Jahresendatmosphäre langsam und ein bißchen nervös entwickelt. Nach klassisch grübelnden Stunden, die sich zu Hause fortsetzen – „Same procedure as last year“ –, hängt man zumindest als Alleinwohner häufig im Vakuum herum, verliert sich zeitlos im Ungefähren, um erst kurz vor Mitternacht vom vermehrten Böllergetöse aufgeschreckt zu werden. Über die wichtigsten Dinge des letzten Jahres sinnierend, hastet man dann auf den Kreuzberg oder andere Aussichtspunkte, um sich mit Jahreswendezufallsbekanntschaften noch einmal darüber zu unterhalten, ob es im Osten doch mehr leuchtet als im Westen.
Vielerlei Routen bieten sich nun all jenen an, die keine Lust haben, an nur einem Ort zu bleiben. Wer in Kreuzberg ist oder bleibt oder dorthin fährt, wird wenig Amüsierprobleme haben: die meisten Lieblingskneipen zwischen dem „Mislivska“ in der Schlesischen und dem „Pinox“ am oberen Ende der Oranienstraße haben (wie das „Intertank“) spätestens ab 23 Uhr geöffnet. Auch in 61 kann man zwischen dem „Café Anfall“ und dem Mehringhof hin- und herpendeln. Schwieriger wird's in Moabit. Im Silvesterteil der Stadtmagazine hat man den finsteren Bezirk gleich ganz weggelassen. Zumindest im recht schönen und angenehmen „Pegasus“ (Putlitz-/Ecke Birkenstraße) feiern jedoch die Soul- und Reggaefreunde.
Im Prenzlauer Berg lockt der Franzclub, wartet die „Titanic“. Ob der „Frisör“ (Kronenstraße) in Mitte allerdings fröhlich das Jahr verabschieden will, war nicht herauszukriegen. (Sie wollten es. Eigentlich.) Fast klassisch, zudem halbwegs fußgängerfreundlich, sind die Jahresendwechsel zwischen dem „Swing“ am Nollendorfplatz, dem etwas komisch renovierten „Ex & Pop“ in der Schöneberger Mansteinstraße und dem „Kumpelnest 3000“ in der Lützowstraße. Immer trifft man dann am Morgen enthusiasmiert auf irgendjemanden, den man zuletzt vor genau einem Jahr gesehen hatte. Interessant ist der imposante Kontrast zwischen Außen- und Innenluft; begeisternd die Amüsierentschlossenheit einer Menge, die das Aneinandergedrängtsein genießt. Irgendwie lächerlich wirkt es jedoch, wenn jemand, der sich sonst eher in teureren Kneipen als dem „Ex & Pop“ herumtreibt, einer schönen Frau eindrucksheischend seine Spiegel-Visitenkarte überreicht. Zur Strafe wird er ignoriert und fällt später dann auch alkoholungewohnt um. Nach dem Aufstehen beginnt man sich blinzelnd im neuen Jahr einzurichten wie in einer neuen Wohnung. Detlef Kuhlbrodt
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