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SanssouciVorschlag

■ 900 Meter Restboulevard / Eine Ausstellung im Wedding

Das Luisenbad im Bau. Die Badstraße im Jahre 1892 Foto: Begleitbuch

Bethusaleme unter den Panzerknackern erinnern sich bestimmt: Damals, in den zwanziger Jahren, als der Erfolg eines zünftigen Bankeinbruchs noch vom geschickten Hantieren mit Schweißbrenner und Stethoskop abhing, kamen die „härtesten Nüsse“ aus dem Wedding. Gleich zwei Geldschrankfabrikanten machten sich dort Konkurrenz – die „älteste Fabrik für Kassen- und Tresorbau“ des Hofkunstschlossers S. J. Arnheim und eine Firma mit dem vielsagenden Namen „Panzer AG Berlin“.

Doch in der Badstraße wurden nicht nur die „stärksten Geldschränke der Welt“ hergestellt, auch in anderer Hinsicht war die Straße etwas ganz Besonderes. Bis zum Bau einer Trasse am Bahnhof Gesundbrunnen im Jahr 1898 mußten alle Dampfzüge, die von Berlin nach Stettin fuhren, die Straße überqueren. 100 Züge täglich, ein Gang durch die Badstraße wurde zur Geduldsprobe – die Schranke blieb die meiste Zeit am Tag geschlossen. Ein Foto von 1890 zeigt die Wartenden am Bahnübergang: Kutscher mit ihren Fuhrwerken, Kinder, Dienstmädchen in weißen Schürzen, gelangweilte Männer, die Arme in die Hüften gestützt. Ein Bild der Geruhsamkeit – doch der Schein trügt.

„Boulevard Badstraße“ ist der Titel einer Ausstellung im Heimatmuseum Wedding, die von Christiane von Oertzen und Gabriele Jäger als Abschluß eines lokalgeschichtlichen Forschungsprojekts konzipiert wurde. Die Badstraße ist exemplarisch für die Stadtentwicklung im Berliner Norden. In fünf Räumen zeigen Schautafeln, Fotografien, Grundrisse, Karten und andere Zeitzeugnisse deren vielschichtige Aspekte: den Wandel vom sandigen Feldweg, der zum ersten und letzten Berliner Kurbad führte, bis zur Einkaufs- und Vergnügungsstraße; die Geschichte der Verkehrsentwicklung, des Handels, der Industrie und des Gewerbes; die Wohnverhältnisse und die „Badstraße als Vergnügungsmeile“ mit Tanztheatern und Kinos.

Geschichte erzählt Geschichten. Ein Hofapotheker ruiniert sich, weil er den Gesundbrunnen zum Nobelkurort ausbauen möchte. Um 1850 geht es mit dem Bad bergab. 1845 kauft der Seidenhändler und Bühnenmaler Carl Gropius das Gelände, nutzt es als Sommersitz, und es wird Mode der Berliner haute volée, sich in den Anlagen vor der Stadt zu verlustieren. Doch „die anderen“ kommen nach: Weber und Gerber siedeln sich an, und bald schon ist die Panke ein stinkendes Gewässer. Mit der Erholung ist es vorbei, und auch das Brunnenhäuschen stört nur noch. 1908 wird es abgerissen, die Quelle in den sechziger Jahren zubetoniert. Das Ende vom Bad an der Badstraße.

Rasant entwickelt sich das Viertel zur Arbeitergegend. Spekulanten bauen Mietskasernen, erfolgreiche Kaufleute errichten Wohnhäuser mit prächtigen Fassaden und Dienstboteneingängen. In der Badstraße treffen die sozialen Gegensätze hart aufeinander. Bilder aus dem Fotoalbum des Druckereibesitzers Kraatz kontrastieren mit Ansichten aus den Elendsquartieren der Arbeiter und dem Brief einer Frau, die sich über das Wanzenblut an den Wänden beklagt. Das modernste Verkehrsmittel Berlins, die Pferde-Eisenbahn, wird gebaut und der Bahnhof Gesundbrunnen ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Züge rattern durch die Straße, und die Anwohner ärgern sich.

Der interessanteste Raum der Ausstellung ist dem Gewerbe, den Tresorfabriken, Brauereien und fotografischen Ateliers, gewidmet. 1862 eröffnet der Sohn des Müllers Aders auf dem ausgeräumten Mehlboden das erste Fotostudio. Auch mehrere Herrenkonfektionshäuser standen an der Badstraße. Ihre jüdischen Besitzer wurden in den Konzentrationslagern ermordet. Einziges Zeugnis dieser Geschichte: ein Lineal mit dem Werbeaufdruck „J. Baer Berlin, Spezialhaus für Herren- und Knabenbekleidung“. Das letzte Ausstellungskapitel wird dem Titel „Boulevard“ am gerechtesten. Die Badstraße war lange Zeit ein Zentrum der Unterhaltungskunst. Allerdings: In den Tanzsälen, in „Ballschmieder's Kastanienwäldchen“ und bei „Mutter Schirm“, auf den Rummelplätzen und in den Gartentheatern ließ sich „das Volk“ unterhalten, „die da oben“ versuchten immer wieder, das tolle Treiben durch Steuerauflagen zu unterbinden. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden die ersten Lichtspielhäuser. Die letzten Paläste, zum Beispiel das Humboldtkino, in dem nach dem Krieg die SED von Westberlin tagte, wurden vor wenigen Jahren abgerissen.

Über die Badstraße gibt es viel zu erzählen – und das, obwohl sie heute nur noch 900 Meter lang ist. Den Historikerinnen vom Heimatmuseum Wedding ist beides gelungen: Strukturen aufzuzeigen und Geschichten mit sparsamen Mitteln zu erzählen. Nur: Einen Arnheimschen Tresor hätten wir doch gerne gesehen – und ein Bild vom Einbrecherduo Franz und Erich Sass auch. Aber das wäre vielleicht zu romantisch, und das war der Wedding nie. Oder doch? Stephan Schurr

„Boulevard Badstraße“ ist noch bis zum 3. Oktober im Heimatmuseum Wedding, Pankstraße 47, zu sehen. Das umfangreiche Begleitbuch (Edition Hentrich) kostet 19,80 DM.

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