Sanssouci: Nachschlag
■ Matinee zum Thema "Euthanasie" im Deutschen Theater
Giora Feidman bei „Sonnenuhr“ Foto: Armin Herrmann
Der Holocaust ist zur Zeit ein Thema, das unter dem Aspekt seiner angemessenen künstlerischen Darstellung diskutiert wird. Wir sind unter Umständen bereit, Spielbergs Tränendrüsen-Dramaturgie zu akzeptieren, wenn der Inhalt dafür glaubwürdig „rüberkommt“. Vergleichbar funktionierte die gestrige Matinee im Deutschen Theater zum Thema „Euthanasie, das vergessene Verbrechen – Der Mord an den nutzlosen Essern“. „Sonnenuhr e.V.“, die Kunstwerkstatt für Behinderte in der KulturBrauerei, hatte eine Lesung mit fünf Schauspielern des DT organisiert. Den öffentlichkeitswirksamen Rahmen für die bedrückende Dokumentation der Euthanasie des NS-Staates gestaltete kontrapunktisch zum Inhalt ein bunter Haufen geistig behinderter Kinder und Erwachsener unter der väterlichen Aufsicht des teuer eingekauften Klezmer-Klarinettisten Giora Feidman, einem virtuosen Musikpädagogen und Magier der Gefühle. Rührung war also angesagt.
Aktueller Anlaß der Veranstaltung, laut Programmzettel, war die gegenwärtige verkappte Euthanasiediskussion unter Ärzten und Humangenetikern. Stichwort: Fruchtwassertest und die Empfehlung zur Abtreibung behinderter Embryos. Exemplarischer Fall: der australische Bioethiker Singer mit seinem Buch „Muß dieses Kind am Leben bleiben“. Voreilige Schlußfolgerung: Behinderte, Alte, Kranke, Pflegebedürftige werden in Zukunft entweder qua staatlicher Eugenik oder Sterbehilfe beseitigt, weil sie zuviel Geld kosten. Solche Horroszenarien wurden bei der Lesung mangels prägnanter Beweismittel ausgeklammert. Leider aber auch die subtilen Formen gesellschaftlicher Diskriminierung Behinderter. Statt dessen sollten die historischen Dokumente der Opfer, der Überlebenden und der Täter den Blick für eine gegenwärtige „Tendenz“ schärfen. Das hätte vielleicht funktionieren können, wenn Giora Feidman der allgemeinen Niedergeschlagenheit des Publikums mehr Raum gelassen hätte. Aber damit nur ja niemand auf seiner Trauer sitzenblieb, wurden wir rasch in die heitere Gegenwart der glücklich musizierenden „Kinder“ zurückgeholt. Ein Liedchen rasch noch zum versöhnlichen Schluß, das Publikum summte trotz Kloß im Hals und war wieder aufgerichtet. Der große Feidman hatte mit seiner routinierten Emotionsorgie alles andere an den Rand gedrängt. Es blieb nur aufgepfropfte Fröhlichkeit. Matthias Schad
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen