Sanssouci: Vorschlag
■ Szenisch gefaßt: "Kassandra" im Modernen Theater / Nachschlag * Improvisiert: "Fall in Jazz" im Haus am Waldsee
Nur ein einziges Mal schreit sie auf, mit einem gellend hohen, unmenschlichen Schrei. Klytemnästra hat Agamemnon ermordet, die nächste wird sie selbst sein. Die Seherin wirft sich zu Boden und fleht nur um eines: Ihr Wissen weitergeben zu dürfen an eine Sklavin, die es wieder ihrer Tochter sagen wird und die wieder ihrer Tochter, damit neben den Heldenliedern der Männer auch die andere Geschichte überliefert werde.
Christa Wolfs „Kassandra“, in den Achtzigern die heilige Schrift der Frauen- und Friedensbewegung, ist bekanntlich nicht fürs Theater geschrieben. In ihrer szenischen Fassung hat die Schauspielerin Erika Eller Bandwurmsätze gekürzt, aus vielen Textpartien nur den Kernsatz herausgelöst und die Erzählung insgesamt so stark gestrafft, daß sie einen knapp anderthalbstündigen Monolog ergibt. Dabei fallen allzu geschätzige Stellen weg, aber natürlich auch Wiederholungen und Querverweise, die dem Text seine Struktur geben und die Figuren charakterisieren. Die Amazone Myrine, die Übermutter Hekabe und der skrupellose Machtmensch Eumelos bleiben in der szenischen Fassung konturlos, weil sowenig über sie gesagt wird.
Ein ockerfarbenes Tuch bedeckt die Bühne. Links steht eine Schale mit Wasser, in die die Priesterin Kassandra die Hände tauchen kann. Rechts sind Schädel und Gebeine verstreut. In einer weißen Tunika schreitet Erika Eller herein, schlägt ein Buch auf und liest mit ihrer dunklen, vibrierenden Stimme den erzählerischen Rahmen vor: „Hier war es. Hier stand sie.“ Die Inszenierung von Heike Gäßler verzichtet auf Effekte. Die Schauspielerin setzt ihre Ausdrucksmittel sparsam ein, ihr Spiel kommt fast völlig ohne extreme Bewegungen und Stimmlagen aus. Immer wieder zieht sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Tuch fester um die Schultern, kauert sich ganz klein zusammen, schlingt die Arme um die Knie. „So viele Brüder, so viel Kummer, so viele Schwestern, so viel Entsetzen...“
Foto: Thomas Aurin
Kassandra, die vor dem Tod noch einmal ihr Leben erinnert, ihr Gedächtnis „ansticht“, ist auch körperlich ganz in sich gekehrt. Stellenweise gelingt Eller damit eine hohe Intensität, doch läßt sich die Spannung nicht während des ganzen Monologs durchhalten. Eine Erzählung ist nun einmal kein Drama, und so klingt es hin und wieder zwangsläufig wie eine Literaturlesung im Radio. Miriam Hoffmeyer
Bis 15. August freitags bis montags 20.30 Uhr im Modernen Theater Berlin, Merseburger Straße 3, Schöneberg, 781 55 04.
NachschlagImprovisiert: „Fall in Jazz“ im Haus am Waldsee
„Rechts halten und dann schlappe zehn Minuten“, lautete die ziemlich korrekte Anweisung für einen noch S-Bahn-Unerfahrenen wie mich. Als ich mich am Samstag in die Kiezberger Nachmittagshitze traute, um mir den Weg in die Seedorfgegend zu bahnen, ahnte ich irgendwie schon, daß es mit den zehn Minuten Fußweg wohl nicht ganz getan wäre. Nach einer knappen Stunde Schienenbaden war ich dann soweit, mich in die Schlange von Fußgängern, Cabrio-Fahrern und Mountainbikern einzureihen, die Einlaß begehrte. In den Park und an den See gelangt man nur durch das Haus, dagegen ist nichts zu sagen. Aber der Grund, warum ich mir in all den Jahren gerade dieses „Summer Music“- Wochenende der Free Music Production (FMP) immer verkniffen habe, fiel mir erst wieder ein, als ich durch war: die FMP-Konzerte dürfen in diesem Park nämlich gar nicht stattfinden. Obwohl es genügend Bänke zum Sitzen, Altbäume, Rasen und Seeluft gibt. Aber eben auch jene „merkwürdigen“ Nachbarn, „die dann nach zehn Minuten die Bullen holen würden“, wenn sie von dort das hören müßten, was die FMPler improvisierte Musik nennen. Also blieb der Park den Verschnaufenden und Rauchern, die so taten, als würden sie die Rasenmähergeräusche aus der Nachbarschaft einfach überhören. Drinnen ging einstweilen alles seinen Gang. Dichtgedrängt sitzend, das akademische Viertel in Kauf nehmend, deokulturelle Identität wahrend und dennoch hin und wieder nach den Terrassentüren schielend, schlappte man geduldig dem subventionierten Kulturereignis entgegen. Zu FMP-Konzerten geht man nicht, um Newcomer zu entdecken. Hier darf man getrost die „ganz großen“ der improvisierenden Szene erwarten. Der Erlebniswert mißt sich eher am Wechsel ihrer Zusammenkünfte. Wenn etwa der französische Klarinettist Louis Sclavis mit dem holländischen Cellisten Ernst Reijseger im Duo auftritt. Oder das Auswechseln einer gerissenen Cellosaite zum improvisierten Highlight wird. Oder einer im Publikum eine Ültje-Packung aufreißt. Oder das besoffene Torkeln einer geretteten Wespe ein Terrassen-Pärchen in den besten Jahren zur Verständigung darüber animiert, daß ein bißchen Schmusen am späteren Abend doch eigentlich ganz nett wäre. Christian Broecking
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