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SanssouciNachschlag

■ Robert Walsers tapferer Nachlaßentzifferer berichtete im Literaturhaus von seinen Entdeckungen

Carl Seelig, der, als Robert Walser längst in psychiatrischen Heilanstalten lebte, zu seinem Freund und Vormund geworden war, fand in dessen Nachlaß auch ein Konvolut mit 527 Blättern. Diese Blätter waren in rhythmischen Schwüngen unvorstellbar eng mit Bleistiftstrichen bedeckt. Seelig ahnte wohl, daß es sich um Schriftzeichen handeln könnte, glaubte jedoch an irgendeine Geheimschrift, die nie zu entziffern sein würde. Andere vermuteten auf den Blättern sogar einfach nur das unleserliche und unbedeutende Geschreibsel eines Wahnsinnigen. Dann aber gelang es Jochen Greve 1972, die Schriftzeichen als unerhört verkleinerte Sütterlinbuchstaben zu erkennen und 35 Seiten zu transkribieren. Er veröffentlichte die Schriften als „Räuber“-Roman und „Felix“-Szenen. Mit der Entzifferung der übrigen Blätter sind seit mittlerweile über dreizehn Jahren Bernhard Echte und Werner Morlang beschäftigt.

Werner Morlang nun hatte letztes Wochenende seinen mikrographischen Arbeitsplatz im Züricher Robert Walser Archiv verlassen und ist auf Einladung der „Produktionsgesellschaft für inszenierte Poesie“, der „Szene der Poeten“, ins Literaturhaus in der Fasanenstraße gekommen. In der Reihe „Von den Luftgeschäften der Poesie“ las er dort aus bislang unveröffentlichten Texten Walsers und erzählte sowohl von der mikroskopischen Arbeitsweise Walsers sowie von seiner eigenen: 30 bis 40 Stunden benötigt er, um einen Walsertext in Postkartengröße zu transkribieren! Und je später die Texte geschrieben wurden, desto schwieriger wird es, denn die Buchstaben, die in den frühesten Texten noch eine Höhe von doch immerhin anderthalb Millimeter haben, verkleinern sich bis zum Ende der Aufzeichnungen aus dem Jahre 1932 ins Unentzifferbare. Die letzten zwölf Blätter werden wohl ungelesen bleiben. „Robert Walser hat sich langsam in die Unleserlichkeit geschrieben“, sagte Morlang, ein kräftiger Mann mit im Lesesessel ergrautem Haar und weißem Bart. Auch fern von Zürich wirkt er noch etwas verzaubert von dem Mythos des Schriftstellers, dessen Schaffen er entziffert.

Vier Bände „Aus dem Bleistiftgebiet“, die Walsers mikrographischen Nachlaß enthalten, sind bislang veröffentlicht. Zwei Bände werden noch folgen, dann wird der größte Teil der Blätter zu 2.000 Druckseiten transkribiert sein. Neben dem „Räuber“- Roman und den „Felix“-Szenen finden sich vor allem unzählige kurze Prosastücke, viele Gedichte und dramatische Szenen. Warum Walser in dieser Form schrieb? Eine Schreibkrise zunächst des chronisch erfolglosen Schriftstellers, der sich mit diesem „bleistifteln“ vom „Schreibfederüberdruß“ befreien wollte. Und dann gibt es auch noch einen ästhetischen Aspekt: Robert Walser paßte sich dem Format des Blattes an, und gab es irgendwo noch eine freibleibende Lichtung auf dem Papier, dann füllte er sie mit einem Gedicht. Volker Weidermann

Eine weitere Lesung der Reihe „Von den Luftgeschäften der Poesie“ findet am 13.11. um 16 Uhr statt: Im Modernen Theater in der Merseburger Straße wird Angelika Maria Škoda aus dem Roman „Eugen Onegin“ von Aleksandr Puškin lesen

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