Sanssouci: Nachschlag
■ Gero Troike inszenierte „Boris Godunow“ in der Volksbühne
Theater wie ein Marsch durch die sibirische Steppe Foto: David Baltzer / Sequenz
Ein Stück über die politische Andersartigkeit Rußlands war angekündigt in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Puschkins Historiendrama aus dem Jahr 1831 über den Zaren Boris Godunow, der sich an die Macht gemordet hat, und einen jungen Mönch, der sich als Zarewitsch Dimitri ausgibt und nun nach Moskau aufbricht, um Godunow zu stürzen. Ein Beitrag zur kulturellen Ostintegration der zweiten Bundesrepublik? Man war gespannt, wenn auch das Stück selbst, eine lose und gegen Ende ziemlich ausgefranste Szenenfolge, zu allzugroßer Hoffnung keinen Anlaß gab. Doch schon sehr bald war leider klar, daß Gero Troike und seine Mannschaft über Rußland auch nicht mehr zu erzählen hatten als Ivan Rebroff in den letzten dreißig Jahren. Kaum ein Klischee von Mütterchen Rußland blieb ausgespart: knarrende Patriarchen, ein dröhnender Zar und scharenweise buntes Operettenvolk. Rauschende Bärte, hinter denen die einzelnen Figuren kaum auseinanderzuhalten waren. Schuiskij, Worotynskij, Massalskij, Kurbskij und wie sie alle hießen: In der Dunkelheit der Bühne blieben alle Russen grau.
Nur Peter René Lüdicke als rotschopfiger falscher Dimitri brachte etwas Farbe auf die Bühne, die von Bettina Weller ausgestattet war. (Ein anderes kurzes Licht war die Schankwirtin Astrid Meyerfeld.) Zum Schluß wußte man aber trotzdem nicht, wie und wieso dieser Kaspar nun die Zarenkrone wollte und bekam. Und warum eine der spannendsten Szenen in dem ganzen Drama – als Dimitri der polnischen Fürstentochter Marina (Meral Yüzgülec) aus Liebe seine wahre Identität eröffnet – verhampelt und verballhornt wird. Das Publikum schlief oder lief davon. Der verbliebene Rest ging am Ende wenigstens mit einem kleinen Rußland-Erlebnis nach Hause: So wie nach diesen schleppenden vier Stunden muß sich fühlen, wer die sibirische Steppe zu Fuß durchwandert hat. Vom Theatersessel als Archipel Gulag ganz zu schweigen. Esther Slevogt
Nächste Vorstellungen am 16./17.9. und 1.10., 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen