Sanssouci: Vorschlag
■ Langsame Kiss-Riffs: Die Melvins und Blind im Loft
Die ganze Sache beruht eigentlich nur auf einem großen Mißverständnis. Vielleicht wäre, wenn Dale Crover, der Schlagzeuger der Melvins, richtig informiert gewesen wäre, alles ganz anders gekommen. Vielleicht wäre die Musikhistorie anders verlaufen – oder zumindest die Rockgeschichte der letzten zehn Jahre. Vielleicht wären die Basketball spielenden SuperSonics immer noch das aufregendste in Seattle, und vielleicht hätte sich Kurt Cobain nicht umgebracht. Man sollte den Melvins keinen indirekten Mord anhängen, aber die Geschichte wäre wahrscheinlich wirklich anders geschrieben worden, hätte Dale Crover in seiner Jugendzeit nicht Iron Maiden für eine Punkrockband gehalten. Ein fataler Fehler, weil Crover und sein Kumpel King Buzzo später – obwohl inzwischen über die wahren Zusammenhänge aufgeklärt – längst infiziert waren.
Gut, wir waren damals alle klein genug, Kiss abgöttisch zu lieben, aber wir haben es definitiv nicht für cool gehalten. Die Melvins schon, und das so intensiv und nun schon so lange und ausdauernd, daß es tatsächlich cool geworden ist. Und mein kleiner Bruder will die Kiss-Platten, die ich ihm in einem Anfall geistiger Klarheit vor Urzeiten vermacht habe, nicht mehr rausrücken. Denn die Melvins haben all die Jahre – auch wenn das unter allerlei Lärm nicht immer so deutlich zu erkennen war – nach Eigenaussage einfach „Kiss-Riffs zu langsam“ gespielt. Und das auch nur, weil sie zu alt seien und „nicht mehr schnell spielen können“.
Selbst blöde Witze verzeiht man ihnen, schließlich haben sie – wenn denn jemand dafür verantwortlich sein muß – der Welt Grunge gebracht und einige Brieftaschen recht prall gefüllt. Cobain soll Stammgast im Übungsraum gewesen sein, ihr erster Bassist ging zu Mudhoney und leitete von dort die erste Grunge- Eruption ein. Dafür dürfen sie jetzt auch ihr kleines Stück vom Kuchen abschneiden, und das haben sie mit ihren letzten beiden Platten höchst professionell hinter sich gebracht, ihren Sound geglättet, daß nur mehr die Karikatur ihrer Vorstellung von den Siebzigern übrigblieb und die Plattenbosse sich in Vorfreude die Hände rieben. Schlauberger, die sie sind, haben sie es nicht bei diesem Witz belassen, sondern sich auch noch vertraglich die Freiheit gesichert, was immer sie wollen, weiterhin bei Independent-Labels zu veröffentlichen, und damit auch noch höchst elegant den Ausverkaufs-Vorwurf umschifft.
Wer ähnliches wie die Melvins versucht, aber dabei nicht genau weiß, was er da tut, oder gar glaubt, daß Rockstarsein heutzutage noch was mit den Siebzigern zu tun hat, muß zwar nicht notgedrungen wie Cobain enden, könnte aber ähnlich knallig-belanglose Musik machen wie die Vorgruppe Blind aus Saarbrücken: schwer professionell, aber irgendwie alles nicht so recht verstanden. Aber das trifft ja auf den Großteil dessen zu, was uns immer noch als Grunge verkauft wird. Thomas Winkler
Am 30. 11. um 20.30 Uhr im Loft, Nollendorfplatz, Schöneberg
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