Sanssouci: Vorschlag
■ Fönwelle und Plateau: Dieter Thomas Kuhn im Huxley's
Die einfachste Möglichkeit festzustellen, daß das mit der Wiedervereinigung noch nicht so recht geklappt hat, bietet sich jeden Freitag bei der „60/40-Disco“ im Kesselhaus der KulturBrauerei. 60 Prozent Frank Schöbel, die Puhdys oder City, quotiert mit 40 Prozent „Westmusik“ aus den 70ern, lassen Wessis kopfschüttelnd zurück und lösen hysterische Jugenderinnerungen bei Ostberliner Anfangsdreißigern aus. Wie eine allergische Reaktion gegen die grassierende nOstalgie krachledert dafür im Westen der Republik der 70er-Jahre-Schlager plötzlich wieder, Helge Schneider war nur der Anfang. Dieter Thomas Kuhn, gelernter Landmaschinenmechaniker und Masseur aus Tübingen, meint jedoch, daß es den Schlager heute streng genommen gar nicht mehr gäbe. Das sei doch nur noch ausgedünnte Volksmusik.
Richtig heißt Kuhn mit Vornamen nur Thomas, aber „woher der Dieter kommt, kann man sich ja denken“. Er ist Ende 20, trägt ein aufgeklebtes Brusthaar-Toupet unterm aufgeknöpften Rüschenhemd, singt „Es war Sommer“, „Mendocino“ und „Tränen lügen nicht“ und nennt sich „die singende Fönwelle aus Tübingen“. Dabei hat der Mann auf den Plateausohlen, dem der Spiegel bescheinigte, daß er mittlerweile „zwischen Biberach und Stuttgart-Degerloch weltberühmt“ ist, sein Herz eigentlich an Soul und Funk verloren, nur leider nicht viel damit verdient. Inzwischen sorgte er für ein viermal ausverkauftes Schmidt-Theater in Hamburg, hat ein Autogramm von Costa Cordalis auf seiner Gitarre und denkt doch über die 70er: „Damals war doch alles unter der Gürtellinie: die Musik, die Frisuren, die Mode, die Möbel. Alles total häßlich.“ So verachtet Kuhn zwar diese Songs aus dunklen Zeiten und motzt sein Repertoire außerdem mit Liedern wie „Über sieben Brücken“ und „Über den Wolken“ auf, die an der Peripherie des Schlagersumpfs lagen, aber trifft trotzdem mit seiner Band das zarte Zittern des Schmelzes, jene Eleganz, die das deutsche Liedgut nur eine kurze Zeit innehatte. Er setzt die Schlager nicht zeitgemäß-grell, sondern respektvoll kitschig noch einmal um, und das macht ihn dann doch wertvoller als jede allgemeine Verunsicherung. Thomas Winkler
Heute, 20 Uhr, Huxley's, Hasenheide 108–114, Neukölln.
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