Sanssouci: Nachschlag
■ Hervorragendes Solo von Hans Martin Ritter in der Akademie
Bonaventura bricht auf zu seinem nächtlichen Rundgang in der Stadt. Den Leuten in der Nacht die Stunden zu verkünden ist seine Aufgabe. Doch der Nachtwächter nimmt uns mit in das abenteuerliche Treiben im Zwielicht, in dem man die Zeit vergißt. Denn er zeigt nicht nur die Welt, die er auf seiner einsamen Wanderung vorfindet, sondern auch die, die er erfindet. Nachtbilder, Gedanken, Erinnerungen und Phantasie vermischen sich ganz im Geist der romantischen Literatur. Die Welt: ein Marionetten-, ein Maskenspiel, ein Tollhaus, in dem Wahnsinn und Tod allgegenwärtig sind und letztlich alles im Nichts endet. Der Roman wurde vor 200 Jahren geschrieben. Erst seit kurzem erkennt man die Autorenschaft endgültig dem Theaterleiter August Klingemann zu. Seine bekannteren Zeitgenossen Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann und der Philosoph Schelling waren zuvor lange im Gespräch.
Im Text geht es um den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod, von Sein und Nichtsein, an diesem Samstagabend ging es aber mehr noch um eine Solodarbietung von herausragender Qualität. Hans Martin Ritter verbindet das epische Theater Brechts mit dem durch die Einfühlung in die Rolle bestimmten Theater Stanislawskis. Bekleidet mit einem alten Mantel und Brechtscher Schirmmütze, bepackt mit Pike und Holzleiter, betritt Ritter den leeren Bühnenraum. In der Akademie der Künste schaut man, im kleinen Studio sitzend, über die Bühne hinweg auch in das große Auditorium: dank der Lämpchen der Bestuhlung ein weiter, sternenhimmelgleicher Hintergrund. Vor ihm führt Ritter in die phantastische Nachtwelt des Bonaventura.
So sparsam wie die wenigen szenischen Mittel eingesetzt werden, so treffsicher sind sie, sinn- und atmosphärestiftend. Eine Leiter symbolisiert nicht nur die Turmlandschaft der Stadt, sondern wird auch als Podest bespielt. Als der Nachtwächter statt der Zeit versehentlich den Tag des Jüngsten Gerichtes ausruft, versetzt er die Bürger der Stadt in heftigen Aufruhr – sie alle fürchten das Fegefeuer. Bonaventura hält einen satirischen Abgesang auf den Weltgerichtstag. Mit pointierter Gestik und Mimik und einem erstaunlichen Stimmenrepertoire erzählt Ritter von den durchweg sonderbaren Gestalten, denen der Nachtwächter begegnet. Und zuweilen schlüpft er selbst in deren Rollen. Besonders eindrucksvoll ist der „Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: Mensch“, der auf einer geschickt auf der Leiter konstruierten Minibühne auf der Bühne als vorzügliches Maskenspiel gezeigt wird. Die Begegnung mit Ophelia im Tollhaus geht unter die Haut. Nicht nur der Darstellung wegen, sondern vor allem weil die Trauer, die ihr totgeborenes Kind nicht bei ihr, sondern bei den anderen Irren auslöst, eine immense Spannung hervorruft. Am Ende begegnet Bonaventura einer alten Wahrsagerin, die sich als seine Mutter entpuppt. Ritter spielt die Mutter und kehrt zurück in die Rolle des Erzählenden, als diese den Sarg des Vaters ausgräbt. Wider Willen hält der alte Alchimist seine Hände gefaltet. Als sie versuchen, ihm die Finger zu lösen, zerfällt er zu Staub. Hier schließt sich der ewige Kreislauf. Übrig bleibt das Nichts. Karin Jansen
Weitere Aufführungstermine gibt es noch nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen