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SanssouciNachschlag

■ Das Wunder eines minimalistischen Melodrams: Theatre de Complicite im Hebbel Theater

Schauspieler werden zu Baumformationen Foto: David Baltzer

Ein Brett ist eine Kuh, ist ein Strauch, ist ein Schauspieler. Oder nichts ist, was es ist und alles kann alles sein. Mimesis ist Mimikry und fortwährende Metamorphose im fließenden Rhythmus der Aufführung, die sich einen Dreck um die Konventionen sogenannter Theaterabende schert. Hoffnungslos hinterm Berg wirken Bezeichnungen wie Bühnenbild, Schauspieler oder gar Inszenierung angesichts von „The Three Lives of Lucie Cabrol“ des Londoner Theatre de Complicite. Wenn sich Bewegung und Text gegenseitig hervorbringen, erübrigt sich jedes In-Szene-setzen, und bei Schauspielern, die ihre eigenen Requisiten und Kulissen sind, gibt's an der Bühne nichts mehr zu bildnern. Ein paar Bretter, eine Schubkarre, eine Handvoll Blechkübel, Kartoffeln, Milch, Wasser und eine dicke Schicht dunkler Erde genügen, um mit dem Schicksal einer savoyardischen Bäuerin eine Epoche zu erzählen. Mit Handgriffen, Gesten, Blicken eine verschwundene Lebensweise so lebendig zu ethnographieren, daß man sich vom feinen Interieur des Hebbel Theaters in eine Breughelsche Bauernkate versetzt sieht. Klotzige Bauernschuhe markieren auf der Bühne verstreut das Verschwinden ihrer einstigen Besitzer. Ein Ich-Erzähler wird sie zum Leben erwecken, von der Geburt Lucie Cabrols erzählen, die so seltsam klein ausschaute, daß man sie „Cocadrille“ nannte – wie das Wesen, das entsteht, wenn der Hahn im Mist ein Ei ausbrütet.

Lucie, die leidende, aber nichtsdestotrotz kämpferische Kreatur: Im „ersten Leben“ vom Geliebten verlassen, im „zweiten“ von den Brüdern des heimischen Hofes verwiesen, als einsame Einsiedlerin von Dieben ermordet. Erst im „dritten“, jenseitigen Leben kriegt Lucie auch ein Stückchen ab vom Glück. Ackerbau und Ackerei, Schweineschlachten, Blutwürste, zwei Weltkriege und ewige Armut prägen den Weg der winzigen Cabrol, ein kärgliches Dasein, das die Londoner Truppe in nüchternen, klaren Bildern erschließt. Unendlich weit entfernt sind Heimatmuseum und Bauernromantik, wenn die Liebesszene im Kuhstall zur Choreographie der aus den Fugen geratenen Bretter gerät, ein Schauspieler gockeliger wirkt als jeder echte Hahn, Späne fliegen, Sensen zischen, Darsteller zu knorrigen Baum- und Wurzelformationen werden. Aus der kollektiven Arbeit offener Seminare destilliert Simon McBurneys „Theatre de Complicite“ den Fundus der Bewegungen, Schritte, Körperhaltungen, Szenen, Dialogfragmente, die man später zur eigentlichen Aufführung zusammenfügt. Mit „The Three Lives of Lucie Cabrol“ entstand so das Wunder eines minimalistischen Melodrams, das dem Berliner Publikum orgiastische Begeisterungsschreie entlockte und Schaubühnenchefin Andrea Breth innerlich die Kinnlade runterfallen ließ. Katja Nicodemus

Bis 7.5. 20 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29, Kreuzberg.

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