Sanssouci: Nachschlag
■ Edith Sitwells vertonter Gedichtzyklus „Façade“ im Tacheles
Exzentrik bedeutet „mit Komik dargebotene Artistik“. Edith Sitwell würde sich bedanken. Für die spindeldürre, verarmte, englische Adlige, die sich zusammen mit ihren Brüdern in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts als ausgeflipptes Geschwistertrio einen Namen machte, war Exzentrik vielmehr eine Lebensform, die half, sich außerhalb von Konventionen zu bewegen. 1964 starb die Autorin dadaistisch anmutender Gedichte im Alter von 77 Jahren. Jetzt wird im Tacheles ihr von William Walton vertonter und 1923 uraufgeführter Gedichtzyklus „Façade“ gezeigt.
Bei dem Versuch, den vordergründig unsinnigen Text von „Façade“ zu akzentuieren, setzen die beiden „Librettisten“ Jon Flynn und Eve Slatner leider auf eine theatrale und klischeehafte Darstellung des way of life der britischen upper class. Mit hyperaktiver Gestik und Mimik, überkorrekter Körper- und königlicher Kopfhaltung sowie einer klar artikulierten Sprache verkörpert Jon Flynn alle Attribute eines gentle-männlichen Menschenschlages, wie er nur noch in Lehrbüchern „Englisch für Anfänger“ zu finden ist. Ihm zur Seite agiert Eve Slatner. Im golddurchwirkten Kleid, mit glänzendem Turban und Unmengen falschen Schmucks will sie an Edith Sitwell selbst erinnern und tut das auch. Relevant ist indessen die Musik.
William Walton (1902-1983), einer der vielen Freunde Sitwells, hat die Wortakrobatik, mit der sie in „Façade“ die Welt in Fragmente zerlegt und wie ein falsches Puzzle wieder zusammenbaut, musikalisch bearbeitet. Dissonanzen und Assonanzen, übereinandergelegte unterschiedliche Rhythmen, Schräges und Liebliches wechseln in rasantem Tempo. Dazu werden sezierte Walzer- und Marschfragmente, Versatzstücke von Klassik und Jazz, genial zusammengewürfelte 20er-Jahre-Musik und ein bißchen Dreigroschenoper-Drive gemischt. Und der musikalische Leiter Dominic Sargent rutscht mit leicht eingezogenen Schultern unruhig auf seinem Stuhl herum – eine minimalistische, aber pointierte Entsprechung jener Ironie, die die Sitwell (sic!) in ihren Texten und in ihrer Person verkörpert. An ihm hätten sich die beiden DarstellerInnen orientieren sollen, weniger ist wie immer mehr. Waltraud Schwab
Bis Samstag, 20.30 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße 53-55
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