Sanssouci: Rundumschlag
■ Einkaufen, Folge 9: Der Flohmarkt, das Buch und die Gabi
Privatleben schauen dich an – Flohmarkt im Winter Foto: Petra Gall/Zebra
In ihrem Song „Samstag ist Selbstmord“ mutmaßt die Hamburger Band Tocotronic, daß die Menschheit an der Institution Wochenende noch zugrunde gehen wird. Schuld daran seien Sportverein, Kaffee-und-Kuchen und Flohmarktbesuche. Aber erstens gehen die Tocotronic-Leute zuweilen selber auf den Flohmarkt, und zweitens sind Flohmärkte einfach eine prima Sache. Dort kann man das Angenehme mit dem Nützlichen auf profitable Weise verbinden und zwischen Uni und nachmittäglichem Cafébesuch schnell ein Schnäppchen machen. Und man befindet sich dabei stets in guter Gesellschaft. Diese bescheidene Form der Jagd nach unentdeckten Schätzen hat in Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ immerhin ihren Platz neben der Lektüre politischer oder philosophischer Essays eingenommen, und sie wird auch gerne von Kunstproduzenten, Gymnasiallehrern und Unidozenten betrieben.
Die trotz eisiger Temperaturen am Samstag auf dem Gelände neben dem Tacheles durchgeführte Stichprobe ergab, daß sich das Umherschweifen zwischen ausrangierten Gütern jeglicher Art selbst im tiefen Winter lohnt. Macht man einen großen Bogen um Stände mit neonfarbenen Stirnbändern, bleibt bei den Trödlern mit den hundert Kartons genug Abenteuer für einen Vormittag übrig. Die Sache mit Gabi aus Würzburg zum Beispiel: Ein halbes Leben in sechs Kartons: Poster, selbstgemalte Bilder, Korrespondenz, Klamotten, Plaka-Farben und Bücher. Was wählen? André Gides „Falschmünzer“, Thomas Manns gesammelte Erzählungen oder ein Heft aus dem Lucy Körner Verlag? Zwischen Röntgenaufnahmen, Jugendfotos und gesammelten Zeitungsausschnitten dann das einzige, für Gabi von einem ehemaligen Freund zum Geburtstag gebastelte Exemplar von „A day in Life/Epigraphisches Buch“. Nur teilweise paginiert und mit Zeichnungen angereichert, versammelt dieses Konvolut auf 150 selbstgetippten Seiten Lyrik und Prosa unterschiedlichster Qualität. Die Lektüre ist dann zwar so wenig amüsant wie der Erwerb von Schuhen, Töpfen und sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs auf dem Flohmarkt – doch das ist eine andere Geschichte. Gunnar Lützow
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