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Sammelbilder der Avantgarde

■ Exzellentes und Seltenes im edelbraunen Karton: Das britische Klangjournal „Unknown Public“ will unerhörte Musik salonfähig machen – in Wort und Ton

Granta diente als Vorbild. Die englische Literaturzeitschrift hatte das Kunststück vollbracht, Qualität und Erfolg unter einen Hut zu bringen. Als anspruchsvolles Forum der internationalen Literatur avancierte Granta gleichzeitig zum Bestseller. Der Musikjournalist, Jazzkomponist und Bandleader John Walters träumte von einer Art „Audio-Granta“ – einem Periodikum in Form einer Compact Disc, das als weltweite Plattform für kreative Musik jenseits der Stilschablonen dienen sollte.

Bei seiner beruflichen Tätigkeit war Walters immer wieder auf exzellente neue Musik gestoßen, die niemand veröffentlichen wollte, wobei er gleichzeitig von Konzert- und Festivalbesuchen wußte, daß es dafür ein beachtliches Publikum gab.

Mit dem Konzept eines Klangjournals hoffte er diese „unbekannte Öffentlichkeit“ zu erreichen, weshalb er dem Projekt den Namen „Unknown Public“ gab. „Jede Ausgabe enthält mindestens 60 Minuten Musik, eine Folge von Aufnahmen unter übergreifenden Titeln“, lauteten die inhaltlichen Vorgaben des „Creative Music Quarterly“. „Manche Nummern werden bewußt eklektisch, andere einem bestimmten Stil, einer Schule oder Arbeitsmethode gewidmet sein. Die Musikbeispiele können verschiedenst geartet sein: ganze Stücke, Kurzversionen längerer Werke, Ausschnitte aus Werken, die noch in Arbeit sind, atypische Merkwürdigkeiten von etablierten Größen, die einzige erhältliche Aufnahme eines neuen Komponisten. Und dann wird es immer mal wieder ein vergriffenes (oder schwer zugängliches) Meisterwerk geben.“

Mit dem Medium des Klangjournals griff Walters eine Idee auf, die vom unabhängigen Plattenlabel Recommended Records des ehemaligen Henry-Cow-Schlagzeugers Chris Cutler schon vor Jahren erprobt worden war, wobei das „ReR Quarterly“ sich stärker auf radikale Rockmusik konzentrierte.

In Laurence Aston, einem alten Hasen im Musikbusiness, fand Walters einen Partner, der bereit war, das Risiko als unabhängiger Verleger zu teilen und sich um die heikle geschäftliche Seite des Vorhabens zu kümmern. Eine Goldgrube würde das Vorhaben nicht werden, darüber waren sich die beiden schon im voraus im klaren. Enthusiasmus und viel harte Arbeit, dazu etwas finanzielle Starthilfe von diversen Kulturinstitutionen brachten das Projekt auf den Weg.

Hunderte von Briefen wurden in die ganze Welt verschickt, um Komponisten und Musiker auf das Vorhaben aufmerksam zu machen und um Beteiligung zu bitten. Mund-zu-Mund-Propaganda tat ein übriges. Gleichzeitig mußte ein Stamm von Abonnenten gewonnen werden, sollte das Überleben längerfristig gesichert werden.

Da „Unknown Public“ als „Qualitätsprodukt“ konzipiert war, wurden an die Einsendungen strenge Maßstäbe angelegt – wobei die Auswahl letztlich doch dem Geschmack der beiden Herausgeber vorbehalten blieb. Ende 1992 fand sich die erste kleine braune Kartonschachtel – das Markenzeichen von „UP“ – bei den Abonnenten im Briefkasten.

Sie enthielt eine CD mit ambitioniertem Cover-Design, dazu ein ausführliches Booklet, das in englischer, französischer und deutscher Sprache die wichtigsten Informationen zu den Werken und Komponisten bereithielt. Darunter befanden sich so renommierte Namen wie Steve Reich (USA), Kevin Volans (Südafrika), Django Bates und Dave Stewart (Großbritannien), die den Bogen von Minimalklängen über neotonale Konzertmusik bis zu Jazz- und Popexperimenten spannten.

Dazu kamen junge Talente wie Alistair MacDonald und Jeremy Peytons Jones, von denen bisher noch niemand etwas gehört hatte, und Paradiesvögel wie Howard Skempton, dessen buntschillerndes Werk immer noch weitgehend im verborgenen schlummert. Stilistisch war damit die zeitgenössische Musikszene in ihrer unübersichtlichen anarchistischen Vielfalt abgebildet. Und die Rechnung ging auf. Die Abonnementzahlen stiegen mit den Folgenummern stetig, so daß das CD-Journal inzwischen über eine solide Bezieherbasis in mehr als dreißig Ländern verfügt. Das reicht zum Überleben, nur unter welchen Bedingungen? Weiterhin ist das Erscheinen auf die Leidenschaft und den Drive der beiden Herausgeber angewiesen. Sie erstellen das Sound- Magazin in Nachtarbeit und an den Wochenenden, während sie ihre Brötchen in anderen Jobs verdienen. Da wirkten die 25.000 Pfund eines englischen Versicherungsunternehmens, das „Unknown Public“ seinen letztjährigen Musikpreis verlieh, wie ein warmer Regen, der für neue Motivation sorgte.

Nach den Themennummern „Pianoforte“, „Musical Machinery“ und „Voicebox“ kreist die aktuelle Ausgabe von „Unknown Public“ um die elektrische Gitarre, wobei in 15 Aufnahmen einige der exponiertesten Vertreter des Instruments zu Wort kommen, darunter Bill Frisell, Mark Ribot und Elliott Sharp. Robert Fripp (King Crimson) und sein String Quintett überraschen mit einem kammermusikalischen Blues, während Nick Didkovsky und Doctor Nerve mit mächtigen Blockakkorden vor Tony Iommi und Black Sabbath den Hut ziehen.

Terry Edwards ist weniger an der E-Gitarre an sich als dem „Geräusch der Elektrizität selbst“ interessiert, bevor überhaupt eine Saite angeschlagen ist. Aus dem Brummen der Verstärker, dem leisen Dröhnen der Lautsprecher und dem Knacken der Kabel montiert er seine Collage. Zwei Solostücke auf akustischen Instrumenten bilden den Kontrapunkt. In G.P. Halls Beitrag hört man den Sand der afrikanischen Wüste durch die Saiten wehen, wogegen Billy Jenkins mit einer um zwei Töne heruntergestimmten japanischen Gitarre eine Miniatur von erstaunlicher Schlüssigkeit improvisiert. Ein rares Stück von Frank Zappa, dem Übervater aller Gitarrenexzentriker, aus dem Jahr 1967 vervollständigt das Bild und markiert den historischen Ausgangspunkt. Christoph Wagner

Unknown Public – Electric Guitars; UP06. Zu beziehen über: PO Box 354, Reading 7BR, England, Tel./Fax (0044) 1734-312580

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