■ Sachsen-Anhalt vor einer rot-grünen Minderheitsregierung: Sachpolitik statt Parteitaktik
„Die große Koalition ist die schlechteste aller denkbaren Regierungen für Sachsen-Anhalt“, wurde der SPD-Spitzenkandidat Reinhard Höppner vor den Wahlen nicht müde zu verkünden. Recht hat der Mann, und – was immerhin nicht selbstverständlich ist – er erinnert sich auch nach den Wahlen noch an seine Parole von gestern. Also Rot-Grün in Magdeburg, allerdings mit einem kleinen Schönheitsfehler: Rot- Grün hat keine eigene Mehrheit. Damit ist Kreativität gefragt. Bislang gehörte zur deutschen Sicherheitsdemokratie das Dogma, Minderheitsregierungen seien zwar theoretisch denkbar, praktisch aber unmöglich, weil stabilitätsgefährdend. Wechselnde Mehrheiten in einem Land des starren Fraktionszwangs waren den politischen Eliten schon immer ein Greuel. Denn was nützt der schönste Posten als Fraktionsführer, wenn der Haufen dann doch womöglich nach eigenen Einsichten abstimmt. Das hat sich in der alten Bundesrepublik so eingespielt, und damit wurde tatsächlich eine teilweise geradezu bleierne Stabilität des Landes gewährleistet.
Der parlamentarischen Demokratie in den neuen Ländern geht diese Stabilität, im positiven wie auch negativem Sinne, noch ab. Dort ist denkbar, was im Westen schon lange nicht mehr gedacht wird. Schließlich startete der Osten anders in die Demokratie als der Westen. Der runde Tisch galt als Verkörperung einer Politikvorstellung, die sich zuallererst an der Lösung konkreter Probleme orientiert, bevor nach der parteipolitischen Präferenz gefragt wird. Eine Minderheitsregierung kann an diese Tradition anknüpfen. SPD und Grüne könnten dem Landtag von Sachsen- Anhalt ein Politikangebot machen, das sich vor allem an die Abgeordneten und weniger an die Parteien richtet. Dies muß dann allerdings alle Abgeordneten einschließen. Wenn SPD und Grüne von vorneherein jede Stimme eines PDS-Abgeordneten zurückweisen – angefangen von der Wahl des Ministerpräsidenten bis hin zur Abstimmung über ein neues Nahverkehrskonzept –, brauchen sie die Debatte um eine Minderheitsregierung erst gar nicht zu führen.
Eine Minderheitsregierung legitimiert sich durch konkrete politische Projekte, für die sie sich jeweils eine parlamentarische Mehrheit besorgen muß. Das setzt eine sachliche Debatte voraus, in der alle Abgeordneten gefordert sind, auch die der PDS. Im übrigen ist dies auch die einzige Möglichkeit, die Entmythologisierung der Gysi-Truppe kenntlich zu machen. Der Zwang zur konkreten Auseinandersetzung wird eine Ausdifferenzierung der Partei zur Folge haben, die sie entweder spaltet oder tatsächlich erneuert.
Die Alternative in Magdeburg ist deshalb jetzt nicht PDS ja oder nein, sondern Sachpolitik versus Parteipolitik. Sachsen-Anhalt hat, angefangen von den Chemieruinen bis hin zur Landwirtschaft, wahrlich genügend Probleme, um eine daran orientierte Sachpolitik für die kommenden Jahre zu rechtfertigen. Eine Minderheitsregierung, die dagegen ausschließlich auf die Parteifarben schielt und darauf besteht, nur von der CDU toleriert zu werden, ist ein Bluff ohne Aussicht auf Erfolg. Dann sollte Scharping Höppner lieber gleich als Juniorpartner in die große Koalition schicken, statt ihn in zwei, drei Wochen den politischen Offenbarungseid leisten zu lassen. Jürgen Gottschlich
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