Sachs und Rapp in Berlin: Spagat-Akrobatik im Hause Suhrkamp
Andächtigkeit bei der Vorstellung der neuen Nelly-Sachs-Ausgabe, prekär leger bei der Lesung von Tobias Rapps Techno-Buch: einen Abend mit Suhrkamp in Berlin.
Von der Fasanenstraße in Berlin-Charlottenburg bis zum Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg sind es neun U-Bahn-Stationen mit 15 Minuten Fahrzeit - aber im Labor Berlin liegen Welten dazwischen. Die Zeiten, da Sven Regener seinen Helden Frank Lehmann Schweißausbrüche bekommen ließ, sobald er die Kiezgrenzen von Kreuzberg überschritt und sich Charlottenburg auch nur näherte, sind zwar vorbei. Aber habitusmäßig, bürgerlichkeitsmäßig und auch immer noch Hundescheiße-auf-dem-Gehweg-mäßig liegen Fasanenstraße und Kotti (wie Berliner sagen) immer noch auf verschiedenen Kontinenten. So ganz unrecht hat man nicht, wenn man feststellt: Was dem Kotti seine Dönerbude, ist der Fasanenstraße ihre Modeboutique. Dies alles sei vorausgeschickt, um zu ermessen, welchen Spagat der Suhrkamp-Verlag gerade hinlegt.
In seiner Berliner Repräsentanz in der Fasanenstraße fand am Donnerstag die Einführungsveranstaltung der im Entstehen begriffenen dreibändigen kommentierten Ausgabe des Werks von Nelly Sachs statt. Ihre Exzellenz die schwedische Botschafterin Ruth Jacoby sprach ein Grußwort. Gedichte der 1940 aus Berlin ins Exil nach Stockholm geflohenen Dichterin wurden verlesen. Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums, sprach über die geplante Ausstellung zur Autorin. Dann führte der Herausgeber der Ausgabe, Aris Fioretos, in das Werk von Nelly Sachs ein. Es war alles etwas beflissen und auch ein bisschen andächtig. Danach aber gab es ein schönes schwedisches Büfett mit Fisch und Fleischbällchen, und das zahlreich erschienene Publikum (Männer: Anzug, kein Schlips; Frauen: dezent, nach kürzlichem Friseurtermin) verlebte einen runden Socializingabend.
Neun U-Bahn-Stationen weiter im Club Monarch am Kottbusser Tor las zeitgleich der Suhrkamp-Autor Tobias Rapp (früher taz, jetzt Spiegel ) aus seinem gerade in der Edition Suhrkamp erschienenen Buch "Lost And Sound" über Berlin, Techno und den Easyjetset. Wer den Weg zum Monarch nicht kennt, verläuft sich erst mal sowieso in den weiten, zugigen Fluren des Sozialbetonpalastes Kreuzberger Zentrum. Das Publikum (Männer und Frauen: prekär leger) trinkt Becks, Bionade oder Sekt auf Eis. Anwesend sind Szenegrößen und junge Leute. Während der Lesung wird gelacht. Nach der Lesung wird von DJs Electronica aufgelegt, man sitzt oder steht noch in Gruppen zusammen, im Hintergrund klackert der Kicker. Irgendwann fangen die Ersten an zu tanzen …
Kurz, die Veranstaltung in der Fasanenstraße und die am Kotti: Sie waren einfach nicht zu vergleichen. Sie waren noch nicht einmal das Gegenteil voneinander. Auf beiden Veranstaltungen konnte man seinen Spaß haben, aber jeweils ganz anderen. Jede folgte ihren eigenen Gesetzen, und wer von der einen zur anderen Veranstaltung wechselte (wir waren zuerst bei Nelly Sachs, später im Monarch; die nicht selbst erlebten Anteile haben wir uns erzählen lassen), bekam einen Einblick in die Vielfalt des heutigen kulturellen Lebens. Ob sich diese beiden Szenen mischen werden, wenn der Suhrkamp-Verlag erst mal nach Berlin umgezogen sein wird? Bestimmt nicht. Was das alles bedeutet? Keine abschließende Meinung. Aber klar ist schon mal: Der Spagat im Hause Suhrkamp ist gerade wirklich groß. Wer Markenidentität schätzt, könnte sich verwirrt vorkommen; wer aber Akrobatik mag, hat was zu gucken. Und wie die jeweiligen Bücher sind, ist ja noch mal was anderes.
Zeitgleich las auch noch die Suhrkamp-Autorin Sibylle Lewitscharoff aus ihrem Roman "Apostoloff" im Literarischen Colloquium Berlin. Wieder ein anderer Fall. Aber das kriegen wir nun echt nicht mehr in diesem Text unter. DIRK KNIPPHALS
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