Sachbuch zu Reformpädagogik-Geschichte: Kämpfe im überwallenden Herzen
"Eros und Herrschaft", Jürgen Oelkers' ernüchternde Bilanz der Landerziehungsheimbewegung, legt die lange Vorgeschichte der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule dar.
Nein, die Jahrzehnte währende Praxis des sexuellen Missbrauchs schutzbefohlener Schülerinnen und Schüler an der renommierten Odenwaldschule war kein einer zufälligen personalen Konstellation geschuldeter Betriebsunfall. Und: ebenfalls nein, sie war auch nicht Ausdruck "der Reformpädagogik" als solcher. Aber doch: Sie war Ausdruck einer bestimmten Ideologie und eines Menschentypus, der sich dieser Ideologie verpflichtet sah und sich zu ihr hingezogen fühlte: der Ideologie der Landerziehungsheime, die wiederum in den breiten Strom der Reformpädagogik gehört.
Jürgen Oelkers, der sich als Erziehungshistoriker und -kritiker schon früher intensiv mit Geschichte und Logik von Theorien, die über die Formung einzelner Menschen zu einer Veränderung der ganzen Gesellschaft, ja zur Schaffung eines "neuen Menschen" gelangen wollten, auseinandersetzte, hat das in seinem neuen Buch "Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik" unwiderleglich bewiesen.
Das bestens recherchierte und alle seine auch strittigen Behauptungen zuverlässig belegende Werk bezeichnet der Autor als das einzige Buch, das er ungern geschrieben hat. Er entfaltet ein Panorama, das von den englischen Landerziehungsheimen des späten 19. Jahrhunderts nach Haubinda, Ilsenburg, Wickersdorf und Oberhambach führt und die Leser mit Exzentrikern wie Hermann Lietz, Paul Geheeb und vor allem Gustav Wyneken vertraut macht.
Unterfinanzierte Erziehungsheime
Besonderen Wert legt Oelkers, der es nicht bei einer Kritik der dort herrschenden Ideologien belässt, darauf, die ökonomische Seite dieser Unternehmungen zu analysieren. Er kann so den schlüssigen Nachweis führen, dass es sich bei den Landerziehungsheimen in aller Regel um unterfinanzierte, um bildungsbürgerliche Kundschaft buhlende Unternehmen handelte, die ihre Lehrkräfte ungenügend entlohnten, deshalb eine hohe Fluktuation des Lehrpersonals hinnehmen mussten.
Das führte zu Spannungen, ebenso wie zu dem Umstand, dass eben vor allem solches Lehrpersonal dort blieb, das ein besonderes, über das übliche pädagogische Wohlwollen hinausgehendes Interesse an Kindern und Jugendlichen hatte.
Dieses – weltanschaulich kaschierte – Interesse verbarg sich über Jahrzehnte hinter dem Begriff des "pädagogischen Eros", eines Begriffs, den man nach der Lektüre von Oelkers' Studie getrost ad acta legen kann. Der mit diesem Ideologem einhergehende Bezug auf Platon und die antike Knabenliebe, war so nicht nur, mit ganz wenigen Ausnahmen, in der deutschen Landerziehungsheimbewegung und eben in der internationalen Reformpädagogik zu finden.
In Deutschland verband sich dies freilich mit einem sportiven Zucht- und Erziehungswesen, wie es aus Großbritannien kam. Beides – der Wille, eine männliche Jugend der Zucht zu unterwerfen und sie zugleich zu lieben – gehörte zum Kern eines sich unter dem Druck der sexuellen Repression von Kaiserreich und Weimarer Republik artikulierenden Diskurses homosexueller Bildungsbürger. Dafür präsentiert Oelkers in der Gestalt eines zweitklassigen Autors jener Zeit ein überzeugendes Beispiel, gleichsam ein geistiges Leitfossil.
So publizierte der Jurist und Altphilologe Otto Kiefer in der Homosexuellen-Zeitschrift Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur 1924 unter Pseudonym den Beitrag "Der Eros und die Landerziehungsheime". Der Autor, ab 1918 Lehrer an der Odenwaldschule, hatte schon seit 1902 entsprechende Erzählungen verfasst und in pädagogischen Schriften "begeisterte echte Lehrer" "inhaltlosen Pflichtmaschinen" gegenübergestellt.
Kiefer, der in einschlägigen Traktaten als "Dr. Reifegg" firmierte, räumte dabei durchaus ein, dass ein liebender Erzieher "in einer schwachen Stunde Kämpfe in seinem überwallenden Herzen auszufechten habe", was aber mit dem Feuer vergolten werde, das jeder echte Lehrer im Zögling zu entfachen vermöge. Beinahe von selbst versteht sich, dass sich Kiefer auch über den Eros bei Stefan George ausließ. Oelkers gelingt so der Nachweis, dass sich beinahe alle Befürworter des "pädagogischen Eros" an einer – wie es damals hieß – "uranischen" Literaturszene orientierten.
Ihr ging es nicht nur um die Feier gleichgeschlechtlichen Empfindens, sondern auch um das vergängliche Glück "in der Liebe des reifen Mannes zum Knaben". Otto Kiefer war als Lehrer unbeherrscht. Gleichwohl sprach er sich 1904 in einem Buch zunächst gegen die Prügelstrafe aus – eine Position, die er vier Jahre später zurücknahm, um dieses Instrument in die Hand "verantwortungsvoller Pädagogen" zu legen.
Ertüchtiger und Züchtiger
Somit stellt Otto Kiefer den Idealtyp des Landerziehungsheimpädagogen dar, eine zweitklassige Gestalt, in der wesentliche Züge der "Gründer" der Landerziehungsheime, des Ertüchtigers und Züchtigers Hermann Lietz, des verstiegenen, den Reizen junger Mädchen nicht abgeneigten Lebensreformers Paul Geheeb und – last not least – Gustav Wynekens wie in einer Karikatur zusammenflossen.
Gustav Wyneken, Mitgründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf sowie einer der erwachsenen Stichwortgeber der deutschen Jugendbewegung – ein Mann, unter dessen Einfluss bis 1915, bis zu seiner Kriegsbefürwortung, auch der junge Walter Benjamin stand – mag als Zentralfigur der deutschen Landerziehungsheimideologie gelten.
Entsprechend stellt das Kapitel "Der 'Eros' des Gustav Wyneken" den zentralen Teil von Oelkers Buch dar. Hochreflektiert, hochgebildet, in seiner geistigen und psychischen Entwicklung stets gebrochen, war Wyneken nicht nur ein pädagogischer Gründer von Graden und immer wieder der Päderastie bezichtigter Charismatiker, sondern auch ein Theoretiker, der das Lebensalter der "Kindheit" grundsätzlich ablehnte und zudem der Überzeugung war, dass Erziehung stets "Vergewaltigung der Natur" sei.
Oelkers zitiert aus den Protokollen eines Strafprozesses wegen sexueller Belästigung und Missbrauch zweier Minderjähriger durch Wyneken. Drastische Szenen, wie sie auch in den Berichten über die Odenwaldschule zu Ohren einer entsetzten Öffentlichkeit kamen und unausweichlich die Frage nach dem Verhältnis dieses Typs von Reformpädagogik, von Homosexualität und Pädophilie aufwerfen.
Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Aus sexualpsychologischer Sicht haben Homosexualität und Päderastie ebenso viel miteinander zu tun wie Heterosexualität und Pädophilie, nämlich nichts! Allerdings: Sexualität ist allemal Kind und Ausdruck ihrer Zeit, von Homosexualität so gut wie von Heterosexualität.
Auf lange Jahre ein Standardwerk
Im wilhelminischen Kaiserreich mit seiner hegemonial männerbündischen, frauenfeindlichen und vor allem militaristischen Kultur lag es besonders nahe, sexuelle Wünsche diesem Herrschaftstypus, dem Militarismus und seinen bildungsbürgerlichen Ausdrucksformen ("die Griechen"!) zu assimilieren und dafür Institutionen und Praxen zu erfinden, in denen sie, wenn auch verklemmt und verstümmelt, gelebt werden konnten.
Davon vor allem handelt dieses Buch, das auf lange Jahre das Standardwerk nicht nur für die Geschichte der Landerziehungsheime, sondern auch einer jeden künftigen sozialgeschichtlich informierten Ideologiekritik der Pädagogik und ihrer unvermeidlichen Ideologien bleiben wird.
Das auch dieser traurigen Geschichte zugrunde liegende Problem nach den im Guten wie im Schlechten triebhaften Komponenten jeden Erziehungsgeschehens wird dadurch nicht gelöst, wohl aber umso greller beleuchtet: das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den Generationen in all seiner Vielfalt – zu Hause, im Kindergarten und in der Schule. Es war Walter Benjamin, der in seiner Aphorismensammlung "Einbahnstraße" dafür plädierte, an die Stelle der Beherrschung von Kindern die Beherrschung der Generationenverhältnisse zu setzen.
Jürgen Oelkers: "Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik". Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2011, 340 Seiten, 22,95 Euro.
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