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STANDBILDSehnsucht nach dem jungen Kohl

■ Der erfolgstrunkene Bundeskanzler verliert den TV-Anstand

Die Kinder waren wieder die Verlierer. So hart muß man es sagen. Die frisch gebadeten Knirpse mußten fassungslos mitansehen, wie sich zur Abendgrußzeit lieblos ein Untertitel in die Landtagswahlberichte schob: „Das Sandmännchen muß heute leider ausfallen. Wir wünschen Euch eine Gute Nacht!“ Große fragende Kinderaugen sehen dich an. Du weißt, wenn du sie jetzt mit kaltem Schulterzucken zwischen die Laken schickst, werden sie dir die nächsten drei Stunden beweisen, wie oft man austreten oder Durst haben kann. Also ringst du den inneren Zuchtmeister nieder und sprichst mit süßem Lächeln: „Na gut. Dafür könnt ihr heute mal länger aufbleiben.“ Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, daß nicht bloß der Sandmann abhanden gekommen war, sondern auch aller Anstand bei den Politikern. Schon das nächste Fernsehbild gefährdet das kindliche Gemüt. „Da!“, stößt der einjährige Aljoscha hervor. Entsetzt zeigt er auf den „zugeschalteten“ Theo Waigel, der wie ein Homunkulus ins Fernsehgerät gesperrt ist. ZDF-Moderator Herles macht launige Umfragen bei der im Studio versammelten Poliprominenz. Umsonst. Das entspannt-demokratische Pro und Kontra will sich nicht einstellen. Der konservative Siegeszug durch Ostdeutschland läßt keine Diskussion mehr zu. So müssen sich die Bolschewisten auch gefühlt haben. Als Frau Rühle von den Grünen eine zarte Bemerkung über Parteienmüdigkeit in die Runde wirft, blafft sie der einheitliche Kanzler sofort in die Ecke der Geschichte. „Miesmachen“ knurrt er. Aljoscha rutscht ängstlich in die Sesselecke. Dabei kann er gar nicht wissen, daß das geschichtsbewußte Deutschland schon mal zehn Jahre einen „Miesmacherbeschluß“ in Wirkung hatte. „Ich rede jetzt vom Volk!“, grummelt Kohl weiter. Kohl kanzelt die grünen „Zirkel“ ab. Herles versucht zu schlichten. Aber ein erfolgstrunkener Bundeskanzler ist schwer zu bremsen. Er bellt nach links und rechts. Selbst Oskar Lafontaine wagt nur noch, widerspenstig zu grinsen. Lambsdorff und Waigl lauschen genießerisch, wie der alte Kohl sie alle zu Paaren treibt. Gleich wird er mit dem Aktendeckel nach der Grünen schlagen. Die Kinder verlangen ein anderes Programm. Lafontaine, in korrekter Sitzhaltung, macht noch einmal einen primanerhaften Einwand. Eine Handbewegung bringt ihn zum Schweigen. Die Kinder weinen. „Ab ins Bett!“, befehle ich. Stefan Schwarz

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