SPIELPLÄTZE (5) : Fast wie in Chile, nur ohne Grill
FUSSBALLGUCKEN Chile gegen Honduras im Kvartira Nr. 62 in der Lübbener Straße in Kreuzberg
■ Ort: Kvartira Nr. 62, Lübbener Straße 18, Wrangelkiez, Kreuzberg. Einen Abschlag vom U-Bahnhof Schlesisches Tor. Bei gutem Wetter auf dem Trottoir, sonst drinnen. Russisch, gemütlich, hip.
■ Sicht: Ausreichend. Draußen Bildschirm, drinnen Leinwand. Keine Sperenzchen. Manchmal fällt das Bild aus, dann wird irgendwo gedreht, bis es wiederkommt. Nichts für Perfektionisten.
■ Kompetenz: Unschlagbar. Zumindest bei Chile-Spielen.
■ Nationalismus: Vorhanden, aber nicht wirklich ernst zu nehmen. Ist ja nur ein Spiel.
■ Wurst: Keine Wurst. Zur Not ein Stück Kuchen und Salzstangen. Diskrete Selbstverpfleger werden zumindest auf dem Gehweg geduldet. Szenetypische Getränke, freundliche Bedienung.
Die Lübbener leuchtet. Vor der Partie Chile – Honduras scheint eine gleißende Sonne in den Wrangelkiez und auf die Pappelsamen, die ein handwarmer Wind vor sich hertreibt. Oben steht eine Frau im Fenster und raucht Schwaden, in denen das Licht sich verfängt.
Unten vor dem „Kvartira Nr. 62“ spendet eine Markise Schatten, gerade genug, um das Spiel auf dem Bildschirm zu verfolgen. Das Kvartira gehört Sascha, einem Russen mit breiten Oberarmen und Stupsnase. Francisco aber, der Maler mit den zerzausten Haaren, der nebenan eine Galerie betreibt und bei Sascha kellnert, Francisco ist Chilene und fest entschlossen, seine Jungs zum Sieg zu begleiten. La Roja heißt das Team in Chile, „die Rote“, rot wie die chilenische Wappenblume Copihue, wie die Trikots der Spieler, die der vielen hundert Fans in Nelspruit und wie das von Francisco, der es sich extra hat anfertigen lassen, mit seinem Namen und der Nummer 7.
Die 7 trägt auf dem Rasen Alexis Sánchez, el niño maravilla, das Wunderkind, einer aus dieser jungen, hungrigen Mannschaft, die die Honduraner unter Dauerbeschuss nimmt. Francisco kennt sie alle, Alexis, Ponce, Vidal, el mago Valdivia, und auch wenn seine Rückennummer schon im Stadion vertreten ist, begreift er sich als vollwertiger Teil der Mannschaft. Er brüllt, bettelt, lobt, und bei jeder Torchance der Chilenen – von denen es einige gibt – springt er fast in den Fernseher hinein, was die anderen Gäste zu zaghaften Unmutsäußerungen bewegt.
Nicht viele Chilenen haben sich ins Kvartira verirrt, gerade mal eine Beachvolleymannschaft ließe sich mit ihnen bestücken. Aber Francisco sorgt für genügend Lokalkolorit, und der Rest ist eine geradezu bilderbuchhafte Metropolenmischung: ein Kolumbianer, ein Türke, ein Schwabe, ein Italiener und ein paar Deutsche lehnen entspannt in den Stühlen und mümmeln am Bier oder einer Club-Mate. Ein Typ mit Schlapphut und bunten Hobbit-Ohren schlurft vorbei. Kreuzberg as Kreuzberg can be.
Auch Francisco gefällt’s, als guter Chilene findet er nur, dass hier ein Grill fehlt. Der Kolumbianer kramt ein Glas Heringsdip aus dem Rucksack und macht Schnittchen, die alle dankend ablehnen. Die Stimmung ist gut, la Roja führt. Man neckt sich: „So ein schwuler Pass“ ruft Ümit, der Türke, Francisco murrt.
Als in der 75. Minute der Ball wieder im Netz zappelt, rennt der Chilene auf die Straße: „Goool“, jubelt er, als müsse man es in Südafrika hören, aber es war ein Abseitstor. Die Chilenen retten ihren Vorsprung bis zum Ende, die Kreuzberger Mischung löst sich auf. Am Montag geht es gegen die Schweiz. Vielleicht baut Francisco dann ja doch den Grill auf. CLAUDIUS PRÖSSER