SPD-Sozialexperte Dreßler über neue Parteispitze: "Ich weine noch immer"

Mit dem Führungswechsel sei der Kampf in der SPD noch nicht vorbei, meint Ex-SPD-Präsidiumsmitglied Rudolf Dreßler. Steinmeier und Müntefering hätten zur Intrigenkultur beigetragen.

Die Agenda 2010 ist Schuld an der Zerissenheit der SPD, meint Dreßler. Bild: dpa

taz: Herr Dreßler, im vergangenen Jahr haben Sie über die SPD gesagt: "Wenn man sich die Partei anschaut, kriegt man doch das Heulen." Wie fühlen Sie sich jetzt, nachdem Kurt Beck vom SPD-Vorsitz zurück getreten ist?

Rudolf Dreßler: Ich weine noch immer.

Willy Brandt hat die SPD 23 Jahre lang geführt. Seit 1987 dagegen hat die Partei zehn Vorsitzende zerschlissen. Trainer eines Bundesliga-Fußballclubs scheint heutzutage ein sichererer Job zu sein als der des SPD-Vorsitzenden.

Die Begründungen der Rücktritte können nicht über einen Kamm geschert werden. Scharping wurde abgewählt. Lafontaine ging wegen einer Intrige gegen ihn. Müntefering schmiss wegen eines gescheiterten Personalvorschlags hin. Platzeck erklärte nach fünf Monaten, er sei krank.

Aber warum ist der Job offenbar so unerträglich?

Der Umgang mit den Vorsitzenden scheint ihn unerträglich zu machen. Beck hat sich nicht um den Posten gerissen, sondern er wurde gebeten, es zu machen. Die, die ihn gebeten haben, seine Stellvertreter Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, haben ihn allerdings nicht unterstützt. Dann passiert so etwas wie am Wochenende.

Kurt Beck hat seinen Rücktritt mit "gezielten Falschinformationen" und einer angeblich falschen Darstellung der Kanzlerkandidatur-Entscheidung in einem Bericht begründet. War er einfach zu dünnhäutig?

Ich denke nicht. Die letzten zwei Jahre waren ja nicht ohne. Er sagte: Der Eindruck einer Intrige entspräche "nicht einem Gefühl oder Vermutungen, sondern Fakten". Er sprach von Leuten, "die der Demokratie schaden". Die Schwere dieser Vorwürfe ist kaum zu toppen.

Wer hat den Spiegel vorab über die Entscheidung informiert, Steinmeier zum Kanzlerkandidaten auszurufen?

Am Donnerstag haben drei Leute zusammengesessen: Beck, Steinmeier und Müntefering.

Sie deuten an, es könnten nur Steinmeier oder Müntefering gewesen sein. Doch Beck sagte in seiner Erklärung am Dienstag, seine Vorwürfe richteten sich "ausdrücklich nicht auf die erste politische Reihe".

Von einem der drei muss es jemand aus der zweiten Reihe erfahren haben. Es kann also nur aus den Reihen von Steinmeier und Müntefering gekommen sein. Beck sagte: "Das war und ist darauf angelegt, dem Vorsitzenden keinen Handlungsspielraum zu belassen." Das heißt, die Urheber wollten ihn als Frühstücksdirektor behalten. Das hätte ich auch nicht akzeptiert. Das Absurde ist: Steinmeier und Müntefering, die das verursacht und keine Solidarität und Disziplin gezeigt haben, dürfen solches Verhalten wie ihr eigenes nun nicht mehr dulden.

Es scheint, als würde der Führungsstreit in keiner anderen deutschen Partei so unerbittlich ausgetragen wie in der SPD. Wieso scheint die Partei im Moment einer Schlangengrube zu gleichen?

Das liegt an ihrer inneren Zerrissenheit - und diese hat inhaltliche Gründe. Das Dilemma begann 1998. Seitdem hat die SPD sechs Ministerpräsidenten, tausende von Kommunal-, Landtags- und Bundestagsmandaten und 400.000 Mitglieder verloren. Das ist ein Super-GAU. Ursache ist vor allem die 2003 initiierte sogenannte Agenda 2010.

Die Agenda 2010 wurde von den beiden Personen, die nun die SPD führen, mitentworfen und umgesetzt. Sind Parteichef Franz Müntefering und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier Ihrer Ansicht nach auch schuld an der Kultur der Intrigen und des Misstrauens, die derzeit in der SPD herrscht?

Sie haben inhaltlich zu diesem Dilemma beigetragen und eine Analyse, wie es dazu gekommen ist, abgelehnt. Das ist das Problem. Der innerparteiliche Kampf ist mit dem letzten Wochenende nicht vorbei.

Besonders sozial wirkt das Verhalten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands jedenfalls nicht. Beschädigt das den Markenkern?

Ja, die SPD hat ihre Identität vernachlässigt, verleugnet und mit Füßen getreten. Wenn Disziplin und Solidarität fehlen, ist das für eine Partei diesen Zuschnitts ein Problem.

Sie behaupten, Ursache für den Zustand der SPD sei die Agenda 2010. Ist die Frage, wer sich zu diesem Projekt bekennt und wer es ablehnt, nicht enorm rückwärtsgewandt?

Beim Parteitag in Hamburg 2007 haben 80 Prozent für die - lächerlich geringen - Korrekturen in der Arbeitsmarktpolitik gestimmt. Das ist kein Schnee von gestern. Die Kontrahenten haben damals eine Formulierung gefunden, die den Weg geebnet hätte: die Agenda 2010 "weiterentwickeln". Müntefering hat die Korrekturen vehement bekämpft. Wenn er die Beschlüsse nun nicht vertritt, bekommt er ein Problem.

Mit dem linken Parteiflügel. Sind Flügelkämpfe in linken Parteien deshalb oft so viel härter als in konservativen, weil sie mit mehr Ideologie befrachtet sind? Sind Konservative einfach pragmatischer?

Das ist so und lässt sich bestimmt empirisch bestätigen. Inhalte sind einer sozialdemokratischen Denk- und Handlungsstruktur wichtiger als einer konservativen. Konservativen geht es zweifelsfrei häufiger um Machterlangung und Machterhalt als um Ideologie. Das sieht man selbst beim rechten und linken Flügel der SPD.

Nach dem Eklat mit Beck muss die SPD an ihrer parteiinternen Kultur arbeiten. Wie kann sie das tun?

Parteitage müssen über fundamentale Fragen wie die Agenda 2010 oder eine Kooperation mit der Linken entscheiden. Hätte die SPD von Anfang an durch Parteitagsbeschluss entschieden, ob in den Ländern mit der Linken kooperiert werden darf oder nicht, hätte jeder sich daran halten müssen. Nun entscheiden die Landesverbände autonom. Parteivorstandsbeschlüsse reichen nicht. Sonst werden Vorgänge wie der plötzliche Rücktritt von Kurt Beck normal.

Die Entscheidung für Steinmeier als Kanzlerkandidat und Müntefering als Parteichef halten Sie für falsch. Trägt sie nicht lediglich der Tatsache Rechnung, dass diese derzeit die unumstritten beliebtesten SPD-Politiker sind?

Meinungsforschung soll das Kriterium für inhaltliche und personelle Entscheidungen sein? Wenn die SPD sich auf diesen Weg begeben würde, wäre sie eine stockkonservative Partei des Augenblicks. Alles konzentriert sich auf die Bundestagswahl 2009. Zurückgewinnen von Vertrauen erreicht man aber nicht durch Tagesereignisse, sondern auf einer längeren Wegstrecke. Die einzige Machtoption der SPD für 2009 ist, kleiner Partner in einer großen Koaltion zu werden. Wenn alles nur auf 2009 gelenkt wird, wird die SPD weiter sinken. Dann ist Möllemanns Projekt 18 Prozent für die SPD nah.

Nach allem, was Sie gesagt haben: Raten Sie dazu, 2009 SPD zu wählen?

Als SPD-Mitglied rate ich zumindest nicht das Gegenteil, wie es Herr Clement gemacht hat.

INTERVIEW: TIMO HOFFMANN

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.