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■ SPD-Referent Tilman Fichter über alarmierende Trends der Hessenwahl und die Folgen für den Bund„Speck in der Erbsensuppe“

taz: Die Bündnisgrünen sehen im Ergebnis von Hessen ein bundespolitisches Signal und fordern die SPD auf, sich für die grüne Option zu entscheiden, um den Wechsel in Bonn hinzubekommen. Ist der Hessen-Trend aus der Sicht eines SPD-Analytikers auf den Bund übertragbar?

Tilman Fichter: Man darf aus Landtagswahlergebnissen nicht Honig saugen für die Strategie auf Bundesebene. Die Grünen haben in der Tat einen Erfolg erzielt, und beide Volksparteien, SPD und CDU, haben drastisch Stimmen verloren. Die SPD rund 180.000, die CDU rund 130.000. Der Zuwachs bei den Grünen beträgt nur rund 42.000 Stimmen. Ein erheblicher Teil der Wähler, die bislang SPD oder CDU gewählt haben, ist nicht zu den Grünen gegangen, sondern hat sich enthalten.

Was bedeutet Hessen dann für ein rot-grünes Bündnis im Bund?

Es besteht die Gefahr, daß nun in der SPD eine Diskussion geführt wird, die von den eigentlichen Aufgaben ablenkt. Das Problem existiert völlig unabhängig vom Themenkomplex Rot-Grün. Die Sozialdemokraten haben einen relativ hohen Anteil von Wählern sowohl der jungen Generation wie auch aus der Stammwählerschaft an das Lager der Nichtwähler abgegeben. Es ist auch den Grünen nicht gelungen, diese Abwanderer zu binden. Diese Wahlverweigerung hängt zusammen mit Arbeitsmarktproblemen, mit Problemen der inneren Sicherheit und den immer teurer werdenden Wohnungen in städtischen Ballungsgebieten. Diese Nichtwähler müssen zurückgewonnen werden – für die SPD und für die Demokratie. Das muß die strategische Hauptaufgabe der SPD nach der Hessenwahl sein. Koalitionsfragen sind demgegenüber untergeordnet.

Wer sind diese Nichtwähler?

Es waren drei Gruppen: Erstens Jungwähler, zweitens Wähler aus dem Lager der traditionellen Arbeiterschaft, die arbeitslos geworden sind, drittens Angestellte, die durch die rasante Modernisierung in der Büroorganisation ihren Arbeitsplatz für immer verloren haben.

Bleiben diese Nichtwähler auch künftig am Wahlsonntag zu Hause?

Die Gefahr besteht, daß sie nach einer Schamfrist rechtsextreme Parteien wählen.

Ist es nicht bedrohlich, wenn auch ein Teil der Stammwähler der SPD abwandert, denen die Partei doch immer als Garant des sozialen Ausgleichs galt?

Das Problem ist, daß die SPD manchmal zu viel rot-grüne Folklore betreibt, also Themen demonstrativ besetzen will, die vor allem Jungwählern aus dem grünen Spektrum am Herzen liegen. Diese innerparteilichen Debatten haben so manches Mal überdeckt, daß wir in den „harten Bereichen“ Arbeit und Wohnung eine konkrete Politik praktizieren müssen. Beispiele dafür gibt es. So hat die SPD in Nordrhein-Westfalen die Modernisierung einer alten Industrielandschaft in den vergangenen 20 Jahren meiner Meinung nach erfolgreich praktiziert, Brandenburg etwa treibt eine vorbildliche Wohnungspolitik für junge Familien.

In den Städten hat die SPD in Hessen dramatisch verloren, Metropolen aber sind Vorreiter. Wie reagieren?

Das ist eine bedrohliche Entwicklung. Die SPD wird auf Bundesebene eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung des Phänomens einrichten, aber das kann nicht alles sein. Die SPD muß sich vor Ort erneuern. Die Berliner Abstimmung zwischen Stahmer und Momper, die viele neue Mitglieder für die SPD gewonnen hat, müßte ein Beispiel sein für andere Städte. Das würde ich zum Beispiel auch den Frankfurtern empfehlen.

Droht nun eine Arbeitsteilung: Die Grünen sahnen bei den neuen Mittelschichten ab, die SPD konzentriert sich auf ihre Stammklientel?

Wenn die Grünen tatsächlich eine Partei der saturierten, hedonistischen Mittelschichten wird, dann könnten sie die Rolle der FDP einnehmen und sie überflüssig machen. Aber es hat sich ja in Hessen gezeigt, daß die Grünen zwar etwas dazugewonnen, die Liberalen sich aber auch stabilisiert haben. Die auch in der taz gerne gepflegte Spekulation, wonach die Grünen die ökologische FDP der Zukunft sind, sehe ich durch dieses Wahlergebnis zunächst widerlegt.

War die geringe Wahlbeteiligung ein spezifisch hessisches Phänomen, oder drohen solche Entwicklungen auch in anderen Ländern?

Es gibt hessische Akzente, aber es ist im Grunde ein gesamtdeutsches Problem. Wir haben einen Rückgang der Wahlteilnahme in den neuen Bundesländern erlebt. Ich nehme dieses hessische Wahlergebnis als ein Alarmzeichen. Die Konsequenz daraus ist: Die SPD muß politisch auf die soziale Verunsicherung antworten, die Menschen vom Wählen abhält.

Sie selbst haben in der „Neuen Gesellschaft“ die SPD-Strategie 1994 kritisiert: Es sei ein Fehler gewesen, keine Koalitionsaussage zugunsten von Rot-Grün zu machen. Warum nun Ihre Zurückhaltung?

Ich stehe zu meiner Kritik. Aber dieses Landtagswahlergebnis schon als einen Wegweiser für eine erneute Festlegung der SPD auf eine rot-grüne Koalition im Bund zu nehmen wäre völliger Humbug. Nur dieser eine Hinweis: Die nächste Bundestagswahl wird wahrscheinlich in den neuen Bundesländern entschieden, und dort sind die Bündnisgrünen organisatorisch ein fast nicht mehr wahrzunehmender Faktor.

Die Grünen sollen aufpassen, daß sie diese relativen Stimmzuwächse in Hessen nicht total überinterpretieren und größenwahnsinnig werden. Sie sollten etwas bescheidener werden und sich um die Organisation ihrer Partei in den neuen Bundesländern kümmern.

Auch wenn das momentane Liebeswerben von Joschka Fischer bei Gregor Gysi den Grünen kurzfristig im PDS-Milieu Stimmen bringt, zählt im nächsten Wahlkampf erneut die Organisationskraft. Wenn es überhaupt eine Chance für Rot-Grün gibt, dann nur, wenn die SPD die Abwanderer zurückholt. Das ist jetzt – um Willy Brandt zu zitieren – die Aufgabe „für eine bessere Zukunft“. Denn die Mehrheit der kleinen Leute braucht eine Zukunft in der Arbeitsgesellschaft wie „Speck in der Erbsensuppe“. Interview: Hans Monath

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