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SPANNUNGSFELD NORD-SÜDDer „Kulturalismus“ löst die Epoche der Ideologien ab

■ Interview mit dem algerischen Top-Diplomaten MOHAMED SAHNOUN

Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?

Mohamed Sahnoun: Der Einfluß der beiden Supermächte wird im Laufe der kommenden Jahre zurückgehen. Sie können sich nicht länger auf ihre alten Verbündeten stützen, jene „Truppen“, über die sie im Rahmen des Kalten Krieges und der ideologischen Rivalität mehr oder weniger frei verfügten. Wir werden Zeugen einer Art „Demokratisierung“ der internationalen Politik sein – nicht in globalem Maßstab, sondern als Demokratie einer privilegierten Klasse, die an die des alten Griechenlands erinnert. Die Großmächte, die über gewisse wirtschaftliche, militärische und daher auch politische Grundlagen verfügen, werden versuchen, die Rolle eines Weltpolizisten zu übernehmen. Deshalb ist ungeachtet des Auseinanderbrechens der großen antagonistischen Allianzen davon die Rede, eine bestimmte Nato-Struktur aufrechtzuerhalten; eine Nato jedoch, die ihren Charakter ändern wird. Sie wird sich jetzt mit den Regionen befassen, die als „sensibel“ gelten.

Ohne den Warschauer Pakt, dessen Auflösung nur noch eine Frage der Zeit ist, wird der Einfluß der Sowjetunion stark zurückgehen. Sie wird sich notwendigerweise Westeuropa, Japan und den Vereinigten Staaten annähern und letztendlich mit diesen Mächten an einem Strang ziehen. Eines ihrer Hauptanliegen wird sein, in diesem Rahmen einen gewissen Zusammenhalt der Sowjetunion aufrechtzuerhalten. Eine schwere Aufgabe angesichts der Attraktivität, die der atlantische Pol (vor allem Deutschland), der pazifische (Japan) und der asiatische (Mittlerer Osten) auf einzelne Teile ihres Territoriums ausüben.

Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?

Angesichts des deutlichen Rückgangs des sowjetischen und amerikanischen Einflusses werden notwendigerweise andere Mächte – heute von den Zwängen des ideologischen Antagonismus befreit – ihre Ansprüche gemäß ihren wirtschaftlichen, militärischen und vor allem technologischen Mitteln offen ausdrücken. Das vereinte Europa nach 1992 wird eine Macht sein, mit der man rechnen muß. Es wird gelegentlich auch als Rivale Washingtons auftreten, beispielsweise in der Frage von Einflußsphären in bestimmten Kontinenten oder wenn es darum geht, Modalitäten des Welthandels festzulegen. Das gilt auch für Japan und seine Handelsprobleme mit den Vereinigten Staaten. Dieser Konflikt wird wegen der grundsätzlichen kulturellen Unterschiede nur schwer beizulegen sein und übt bereits jetzt einen beträchtlichen Einfluß auf die Märkte in Asien und vor allem China aus. Der chinesische Markt kann sehr wohl wieder zu einem Zankapfel zwischen den Wirtschaftsmächten werden. In der nahen Zukunft werden wir daher Zeugen einer ernsthaften Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Japan werden. Europa selbst wird weniger monolithisch sein, als es erhofft. Deutschland wird versuchen, die Führung zu übernehmen oder aufgrund seiner Stärke im Namen Europas aufzutreten. Die heute noch unverbrüchliche Solidarität um die Achse der Nato wird daher – und der Golfkonflikt zeigt dies bereits – nicht ohne Risse und innere Widersprüche weiterbestehen. Diese Situation kann sich für die Länder des Südens übrigens positiv auswirken, denn sie verhandeln lieber mit mehreren Partnern als mit Blöcken, die ihnen ihren Willen aufdrücken.

Meinen Sie, daß nationales oder nationalistisches Denken siegen wird über die Idee freiwilliger Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit der Länder?

Ich glaube, es wäre besser, von „Kulturalismus“ zu sprechen als von Nationalismus. Das kulturelle Problem (und das schließt das Religiöse ein) wird entscheidende Bedeutung erhalten. Wir verlassen die Ära der Ideologien, in der wir seit Beginn des Jahrhunderts gelebt haben, gleich ob es sich dabei um den expansionistischen deutschen Nationalismus oder die große Rivalität zwischen Kapitalismus und Kommunismus gehandelt hat. Das Verschwinden der Blöcke wird bestimmten kulturellen, nationalen und regionalen Positionen das Feld überlassen. Das kann allerdings zu einem Problem für die Länder werden, die sich als homogene Nationalstaaten verstehen und die dennoch mit einem vielfältigen kulturellen Erbe leben müssen. Man sieht dies bereits in Osteuropa (Moldawien, Armenien usw.), in Asien und auch in Amerika, wo sich im Norden wie im Süden gleichermaßen die Indianer mit ihrem kulturellen Erbe verstärkt zu Wort melden werden.

Diese kulturelle Frage wird die neunziger Jahre bestimmen. Angesichts der beiden großen Herausforderungen des Jahrzehnts, der demographischen Explosion und der ökologischen Katastrophe, wird Schutz in den Werten der kulturellen Tradition gesucht. Bestimmte Nationalismen und Regionalismen finden hier ihre Rechtfertigung. Diese Probleme werden sich mit großer Dringlichkeit stellen, egal ob sie mit dem Konzept des Nationalstaates vereinbar sind oder nicht. Auch wenn wechselseitige Einflüsse kultureller oder technologischer Art und die Massenmedien den zugespitzten Charakter kultureller Identitäten verwischen, werden die Menschen in ihrem kulturellen und religiösen Erbe das suchen, was ihnen angesichts der erwähnten Katastrophen und deren wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen beim Überleben helfen kann.

Den Maghreb hindert nichts daran, auch künftig ein kulturelles Treibhaus zu sein, das seine geschichtlichen Werte aufnimmt, einschließlich seiner Einheit. Bedauerlicherweise sind es die Eliten, die die Meinungsverschiedenheiten schaffen und schüren. Das gilt auch für die arabische Identität und den Islam. Mit der Demokratisierung des politischen Lebens im Maghreb und anderswo können die politischen Führungen ihre dogmatischen Entscheidungen nicht lange durchsetzen. Sie müssen der öffentlichen Meinung und ihren Bestrebungen Rechnung tragen, und in der Folge werden viele Dämme brechen. Ich halte es nicht für utopisch, für das kommende Jahrzehnt eine Union des Maghreb ins Auge zu fassen.

Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen? Oder etwa durch Nord-Nord-Konflikte?

Die Nord-Süd-Konflikte werden wegen der wirtschaftlichen, kulturellen, demographischen und ökologischen Probleme, die sich vor allem in den Ländern der Dritten Welt stellen werden, sicherlich noch einige Zeit vorherrschend sein. Die privilegierte Klasse, also die Länder des Nordens, legt angesichts der galoppierenden Geburtenrate in den Entwicklungsländern bereits eine gewisse Nervosität an den Tag; und auch bei den kulturellen Problemen in den Industrieländern, die die Einwanderung aus der Dritten Welt aufwerfen kann.

Die Entwicklungsländer, die jahrzehntelang unter der Ausbeutung ihrer Reichtümer gelitten haben, werden ihrerseits eine Veränderung der Beziehungen – vor allem des Handels – anstreben. In dem Maße, in dem die ökologische Herausforderung universellen Charakter annimmt, stellt sie jedoch auch eine Hoffnung im Hinblick auf eine positive Entwicklung der Nord-Süd-Beziehungen nach einer Periode der Konfrontation dar. Wenn wir im gleichen Boot sitzen, dann zweifellos eher im Hinblick auf die Hoffnungen für die Zeit nach dem Jahr 2000 als davor.

Sicher wird es auch Süd-Süd-Widersprüche geben. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es bereits rund hundert Konflikte in der Dritten Welt, und das kann sich fortsetzen.

Die Süd-Süd-Konflikte werden häufig im Zusammenhang mit kulturellen oder ökologischen Problemen – um Wasserläufe oder Staudämme – aufbrechen. Es wird mehr Probleme zwischen den kleinen Ländern des Südens als zwischen den großen geben. Aber an große Brüche glaube ich nicht.

Wo auf der Welt sehen Sie die bedrohlichsten Brennpunkte für zukünftige Konflikte?

In den reichen Ländern droht eine Zunahme der Konflikte um die wichtigen Rohstoffe. Das beweist die Krise am Golf, eine Region, die über rund 40 Prozent der weltweiten Erdölreserven verfügt. Es ist symptomatisch, daß unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Krise genau in der Region ausbricht, die – wegen ihres Reichtums an dem für die Wirtschaft lebenswichtigen Erdöl – für die Industriestaaten in Ost und West die wichtigste ist. Dabei geht es weder um den Golf noch um die arabische Welt oder den strategischen Charakter der Region, sondern um ihren Reichtum an Rohstoffen.

Analog kann es morgen zu Spannungen im südlichen Afrika kommen, das über entscheidende Naturressourcen verfügt, wie auch auf dem amerikanischen Kontinent aufgrund des Ölreichtums von Mexiko und Venezuela.

Auch andere Spannungsherde lassen sich prognostizieren: Das Auseinanderfallen größerer Zusammenhänge gerade wegen kultureller Probleme, beispielsweise innerhalb des Bereichs, der einmal die sowjetische Einflußsphäre bildete. In den Entwicklungsländern zeigen sich andere kulturelle Phänomene: das der Tuareg, der Kurden oder der chinesischen Minderheiten in den asiatischen Staaten. In Kanada fühlen sich die Indianer in ihren Rechten nicht berücksichtigt. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang auch an das Nordirland-Problem, die Basken und die deutschen Minderheiten in den Ländern des Ostens.

Welche besondere Rolle sehen Sie für Ihr Land in der Welt des Jahres 2000?

Algerien allein wird in der Welt von morgen kein großes Gewicht zukommen. Gemeinsam mit den Maghreb-Staaten kann es allerdings eine bedeutende Rolle spielen. Seine besondere Sensibilität und Erfahrung, seine intime Kenntnis Europas, Afrikas und der arabischen Welt werden es Algerien im Rahmen des Maghreb ermöglichen, eine Art Interpret der Interessen und Gefühle eines Teils der Entwicklungsländer zu werden. Die maghrebinischen Länder werden angesichts der geographischen Lage des Maghreb zwischen Europa und Afrika sowie dem engen Kontakt zum Nahen Osten und eines Teils von Asien zahlreiche Schritte und Initiativen vermitteln können.

Die maghrebinische Politik in den neunziger Jahren wird zweifellos die eines Dialogs mit Europa sein. In der arabischen Welt werden wir vor allem unsere Beziehungen zu Ägypten vertiefen und unser wirtschaftliches und politisches Interesse an Afrika und Europa stärker zum Ausdruck bringen.

Die besondere diplomatische Erfahrung, die wir seit unserem Befreiungskrieg erworben haben, und das Vertrauen, das uns von vielen Staaten und Völkern in Afrika und der Dritten Welt spontan entgegengebracht wird, werden es uns erlauben, in schwierigen Verhandlungen bei der Bewältigung von Konflikten zu intervenieren.

Auf wirtschaftlichem Gebiet kann Algerien, wenn es sich von bestimmten Zwängen der Vergangenheit freigemacht hat, ein wichtiges Land und angesichts seines Rohöls und vor allem auch des Erdgases ein bedeutender Handelspartner Europas werden. Aber eine solche Rolle sehe ich nur im Rahmen des Maghreb. Daher ist die Schaffung eines maghrebinischen Zusammenschlusses unsere dringlichste Aufgabe. Und dabei stehen wir erst am Anfang.

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