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Archiv-Artikel

SOZIALHILFE: DER STAAT ZÜCHTET SICH SEINE UNTERSCHICHT Armut als Lebensrisiko

Armut ist ein Phänomen, das bei allen, die sich nicht arm fühlen, Fantasien freisetzt. Da entstehen schnell Fragen wie: Gibt es Armut überhaupt? Machen es sich die Sozialhilfeempfänger nicht doch mit der staatlichen Rundumversorgung bequem? Es liegt so nah, sich vorzustellen, wie sie mit dem Bier in der Hand und den Füßen auf dem Sofa genüsslich fernsehen, während andere fleißig Sozialabgaben zahlen. Und es erscheint so wahrscheinlich, dass die Kinder das Faulenzertum ihrer Eltern übernehmen und sich die „Sozialhilfekarriere“ in der zweiten Generation fortsetzt.

Dies wäre der Moment, die schärfste aller Diskurswaffen herauszukramen und „Zahlen, Daten, Fakten“ zu zitieren. Doch so einfach ist es leider nicht. Gestern präsentierte das Bundesamt für Statistik zwar einen Rückblick über „40 Jahre Sozialhilfe in Deutschland“, aber es ist eine Statistik mit Lücken. So weiß man beispielsweise nichts über eventuelle „Sozialhilfekarrieren“, weil die Behörde nur jährliche Querschnittsanalysen anstellt.

Man kann sich dem Thema also nur indirekt nähern. Dann aber bietet die Langzeitbetrachtung doch drei wesentliche Erkenntnisse zum Thema Armut in Deutschland. Erkenntnis 1: Not entsteht heute nicht mehr so sehr durch Schicksalsschläge wie Krankheit oder Behinderung – sondern durch Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger entwickelt sich seit 1963 parallel zur Zahl der Erwerbslosen. Erkenntnis 2: Besonders betroffen sind allein erziehende Mütter. Erkenntnis 3: Fast 60 Prozent der Sozialhilfeempfänger haben keinen oder nur einen Hauptschulabschluss, über die Hälfte ist ungelernt. Akademiker sind mit ganzen 3,5 Prozent vertreten.

Man kann es auch so sagen: Das Lebensrisiko namens Armut tragen fast nur die unteren Schichten. Und unten ist, wer nicht gebildet ist. Seit der Lernstudie Pisa wissen wir zudem, wie sehr das deutsche Schulsystem dazu beiträgt, dass Kinder mit ungebildeten Eltern ebenfalls ungebildet bleiben. Und bisher sind keine großen Reformimpulse zu erkennen. Statistisch nachweisbar sind „Sozialhilfekarrieren“ zwar bisher nicht, doch dies ist trotzdem deutlich: Der Staat züchtet sich seine eigene Unterschicht. ULRIKE HERRMANN