SCHWARZ UND GRÜN FORDERN: Eine Offensive für die Integration
Thilo Sarrazins Thesen finden "großen Widerhall", sagen Ramona Pop (Grüne) und Thomas Heilmann (CDU) - weil die Integrationspolitik in Berlin schlechter gelungen sei als anderswo. In seinem Essay erklärt das Duo, wie erfolgreiche Integration geht.
Mit seinen Behauptungen befördert Sarrazin die antiislamische Hysterie, der jedes faktische Fundament fehlt. Es nützt aber nichts, dies politisch zu verurteilen - die Hysterischen würden nur verstehen, man wolle die Wahrheit unterdrücken. Zwar liefern Sarrazins Thesen über Juden, Moslems und andere genug Grund für Empörung. Aber ohne sachliche Aufklärung wird man die Welle nicht brechen können. Parteiübergreifend sollten wir die Dinge richtigstellen und Auswege aufzeigen.
Es ist absurd, wie Sarrazin schon die Dimension der islamischen Gefahr darstellt. Heute leben - nach mehr als 50 Jahren Einwanderung - gut 3,3 Millionen Muslime in Deutschland. Erst die rot-grüne Bundesregierung und dann die große Koalition haben Einwanderung und Integration politisch gestaltet. Heute ist es gar so, dass mehr Türken aus Deutschland wegziehen als einwandern. Dass dabei gerade gut Qualifizierte auswandern, ist das bedauerliche Ergebnis einer aufgeheizten Stimmung, die Sarrazin befeuert.
Die Geburtenraten aller Zuwanderer - auch der muslimischen - nähern sich der der Einheimischen schon in der zweiten Generation an. Wie Sarrazin auf mögliche 35 Millionen Moslems kommt, die dann im Jahre 2100 die Mehrheit in Deutschland ausmachen sollen, ist sachlich rätselhaft und reine Demagogie.
Ramona Pop, 32, wurde in Rumänien geboren und kam mit elf Jahren in die Bundesrepublik. Seit 2009 führt sie mit Volker Ratzmann die Grünen-Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus an. Von 1999 bis 2001 war sie Bundeschefin der Grünen Jugend.
Thomas Heilmann, 46, ist Unternehmer und sitzt im Aufsichtsrat der Werbeagentur Scholz + Friends. 2009 wurde er CDU-Landesvize und überraschte mit der für die Union untypischen Aussage: "Wir brauchen den Islam und sollten ihn nicht bekämpfen."
Sarrazin greift die in der Tat problematische Bildungsferne der zahlreichen sozial schwachen Zuwanderer aus der Türkei und dem arabischen Raum auf. Seine These, das könne nur an der kulturell-islamischen Prägung liegen, wird schon dadurch widerlegt, dass die ebenfalls muslimischen Zuwanderer aus dem Irak, dem Iran oder Afghanistan im Schnitt sogar mehr Hochschulabschlüsse vorweisen als die Deutschen. Der soziale Status und die Bildungsferne sind die Probleme, nicht die Herkunft. Sarrazins Fakten sind in vielen weiteren Punkten falsch. So gibt es etwa bei türkischstämmigen Migranten nicht mehr Hartz-IV-Empfänger als unter sonstigen Zuwanderern.
Trotz unrichtiger Fakten und abstoßender, an nationalsozialistische Rassentheorie erinnernde Formulierungen findet Sarrazin großen Widerhall in der Bevölkerung. Wir Politiker müssen uns fragen, woran das liegt. Und dabei kommen wir um zwei Erkenntnisse nicht herum. Erstens sind in den vergangenen Jahren von allen Seiten Fehler gemacht worden. Und zweitens traut die Bevölkerung den Regierenden, ihren Repräsentanten, nicht zu, dass sie die vorhandenen Probleme lösen. Über beides müssen wir reden, wenn wir Vertrauen zurückgewinnen und nicht weiter verlieren wollen.
Glaubwürdig wird Politik, wenn sie über vergangene Irrtümer auch Rechenschaft ablegt. Das kostet Überwindung, doch die Sache muss es uns wert sein. Es gibt mindestens drei systematisch kontraproduktive Elemente: Es beginnt mit dem Ursprung der Zuwanderung in den Sechzigerjahren bis zur Ölkrise 1973. Schon der Begriff Gastarbeiter war naiv und irreführend, weil dieser von einer Rückkehr ausging, die nicht zu erwarten war und nicht eingetreten ist. Auch in der nächsten Phase mit zunehmendem Familiennachzug bedeutete die Formel, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ein Leugnen der Realität - der Hintergrund für versäumte Integration über Jahrzehnte.
Die politische Gegenbewegung hat zwar zu Recht auf die zunehmende Zahl der Zuwanderer und ihre Bedürfnisse verwiesen, aber unter dem Schlachtruf Multikulti zu oft den Eindruck verstärkt, jeder könne machen, was er wolle. Solange grundsätzlich gestritten wurde, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, fand keine Integrationspolitik statt. Heute stehen wir vor den Folgen versäumter Integration.
Es ist kein Zufall, dass die Kassandra-Rufe aus Berlin kommen. Denn hier ist die Integration schlechter gelungen als anderswo in Deutschland. Das hat mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Nichts stärkt Integration mehr als ein dauerhafter Arbeitsplatz. Nicht umsonst kennt etwa Stuttgart mit einem höheren Migrantenanteil als Berlin unsere Probleme kaum. Gute Wirtschaftspolitik ist deshalb auch gute Integrationspolitik. Wir brauchen mehr erfolgreiche Unternehmen in Berlin, wir müssen auch die ethnische Ökonomie stärken. Kein öffentliches Projekt kann schaffen, was die Integration am Arbeitsplatz bringt: Anerkennung, Teilhabe, Selbstbewusstsein. Dies ist die beste Versicherung gegen Enttäuschung, Isolation und Abwendung von der Gesellschaft. Sozialer Aufstieg ist der Weg zu gelungener Integration.
Sozialer Aufstieg gelingt nur mit Bildung. Wir müssen jedes Kind mitnehmen, ihm eine Zukunftsperspektive eröffnen. Dafür muss sich Schule verändern, sie muss mit Vielfalt und Heterogenität klarkommen, sie muss die Starken fordern und die Schwachen fördern.
Die Politik braucht mehr Ideen, mehr Ehrgeiz, mehr Nachhaltigkeit und wahrscheinlich auch mehr Selbstüberwindung, sowohl die Fehlentwicklungen zu unterbinden als auch den Konsens in der Bevölkerung zu befördern. Dabei stehen wir vor Aufgaben, für deren Lösungen wir keine Vorbilder haben. Was machen wir mit Schulklassen, aus denen selbst die besser integrierten Zuwandererfamilien ihre Kinder abziehen? Was machen wir mit Schulverweigerern, deren Eltern jede Kooperation mit den Behörden ablehnen? Was machen wir mit (glücklicherweise wenigen) den sozialen Frieden störenden jugendlichen Intensivtätern? Wahrscheinlich gibt es keine Patentrezepte, und wir werden vieles gleichzeitig machen müssen: bessere Angebote und Stärkung der öffentlichen Autorität.
Wir werden Geduld brauchen. Die aber werden die Bürger nicht aufbringen, wenn sie nicht das Gefühl haben, es werde ernsthaft angegangen. Man kann gut verstehen, dass gerade die Berliner ungeduldig werden, weil es gleichzeitig Untergangspropheten aus der SPD gibt und der von dieser Partei geführte Senat ein zahnloses Integrationsgesetz vorlegt. Selbst die eigenen sozialdemokratischen Bezirksbürgermeister nennen es nutzlos, realitätsfern und sogar wörtlich "bürokratisches Pillepalle".
Wenn jetzt die Sarrazin-Debatte nicht eingefangen wird, dann entsteht eine Polarisierung mit einhergehender Radikalisierung. Die Wagenburgeffekte sind das Gegenteil dessen, was die Stadt braucht. Wir ernten dann mehr Segregation, mehr Ablehnung, mehr Isolation und wahrscheinlich auch einen Zulauf für Islamisten. Dieser Entwicklung müssen wir mit einer Offensive entgegentreten, die Migranten einbindet und die Stadtgesellschaft überzeugt. Sie muss geprägt sein von dem unbedingten Willen, die Dinge zu ändern. Sie droht nicht wie Systemfeinde mit Untergang, sondern sucht im Dialog eine menschenwürdige Lösung.
Eine solche Integration ist im beiderseitigen Interesse, also im Interesse der Deutschen und der Migranten. Und das muss sie auch sein. Eine solche Offensive wird nur gelingen, wenn wir die Kraft zur Differenzierung besitzen. Die Maßnahmen brauchen Konsequenz genauso wie Akzeptanz. Und anders als Sarrazin müssen wir an Fortschritte glauben und darauf setzen, dass wir die Berliner zum Mitwirken ermuntern können, anstatt Hoffnungslosigkeit zu predigen.
Diesen neuen Stil braucht die Berliner Politik dringend. Wir Politiker sollten den Anfang machen und Parteigrenzen für dieses wichtige Ziel überwinden. Vielleicht könnte sich auch Klaus Wowereit überwinden und zugeben, dass es sein Fehler war, Sarrazin zum Bundesbanker zu machen. Eine Entschuldigung bei Zuwanderern wäre ein erstes gutes Zeichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“