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Archiv-Artikel

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN In aller Freundschaft

„Mittelweg 36“. Hg. von der Hamburger Edition HIS, Heft 3, Juni/Juli 2010: „Freundschaft und Zerwürfnis“

Etappen der Entfremdung: die 15 Briefe von Hannah Arendt und Leni Yahil

„Lassen Sie uns Freunde bleiben – und uns streiten.“ Dieser fromme Wunsch, den Hannah Arendt am 10. April 1963 an Leni Yahil richtete, könnte auch aus dem Jahr 2010 stammen. Im aktuellen Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, findet sich ein erstmals in Deutschland veröffentlichter Briefwechsel der jüdischen Philosophin Hannah Arendt mit der israelischen Historikerin Leni Yahil. Beide hatten sich im April 1961 kennen gelernt, als Arendt in Israel weilte, um über den Eichmann-Prozess zu berichten.

Die anfängliche Annäherung zwischen den beiden Frauen basierte auf vielen Gemeinsamkeiten: ihre deutsche Herkunft, ihr intellektueller Hintergrund und die intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Wie in dem Kommentar von Sarit Shavit und Dan Michman mit dem bezeichnenden Titel „Eine Freundschaft, die nicht standhielt“ zu lesen ist, unterschieden sich Arendt und Yahil vor allem in ihrer Beziehung zu Israel und dem Zionismus. Anfänglich begeistert vom Projekt eines jüdischen Staates, engagierte sich Arendt noch Jahre nach ihrer Flucht aus Nazideutschland in zionistischen Kreisen.

Mehr und mehr aber machten sich in ihrer geistigen Auseinandersetzung mit dem Zionismus große Zweifel an dessen konkreter Umsetzung in Palästina und anschließend in Israel bemerkbar. Yahil hingegen war eine überzeugte Zionistin und plädierte für eine national-jüdische Ausrichtung des israelischen Staates, mit dem sie sich unabänderlich verbunden fühlte: „The destiny of the jewish people is my destiny.“ Als der Briefwechsel zwischen Arendt und Yahil 1961 beginnt, hat sich das fragile Gebilde des israelischen Staates gerade einigermaßen stabilisiert. Vor Gericht wird dem vom israelischen Geheimdienst Mossad in Argentinien aufgespürten Logistiker der nationalsozialistischen „Endlösung“, Adolf Eichmann, der Prozess gemacht. Der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen Nachbarn, dessen Folgen bis heute Gegenstand der Auseinandersetzung sind, ist sechs Jahre entfernt. Scheinbar ruhige Zeiten – zumindest für Nahost-Verhältnisse. Und doch birgt Israel – dieses „lächerlich kleine Ländchen“, wie Yahil es nennt – bereits großes Konfliktpotential.

Die beiden Frauen debattieren in ihren Briefen, neben persönlichen Anekdoten, immer auch über das Große im Kleinen. Arendt arbeitet sich am auf ethnischer und religiöser Zugehörigkeit aufgebauten Charakter des israelischen Staates wie der zionistischen Idee ab. Yahil hingegen sah Israel als evolutionäre Folge jüdischer Kontinuität: „Dieses Land und der Staat in ihrer heutigen Form [sind] aus der historisch gewordenen Wirklichkeit des jüdischen Volkes gewachsen […] – wie revolutionär die Wege auch gewesen sein mögen.“ Gerade die Wurzeln Israels – Ethnie, Religion und Geschichte – müssten gegen Angriffe von außen verteidigt werden, schrieb Yahil am 5. Mai 1961 an Arendt, anscheinend im Unklaren darüber, wie weit sich ihr Blickwinkel von dem ihrer Brieffreundin unterschied. Diese bangte in kriegerischen Auseinandersetzungen zwar stets um die Sicherheit und den Fortbestand Israels, blieb aber auf Distanz zu den politischen wie moralischen Verfehlungen der israelischen Politik. Es sind Etappen der Entfremdung, die sich in den 15 Briefen von Hannah Arendt und Leni Yahil beobachten lassen – sowohl menschlicher als auch intellektueller Natur.

Die Kontroverse zwischen den beiden Frauen erinnert an Arendts Debatte mit dem jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, welcher der Philosophin 1963 die „Liebe zu den Juden“ absprach. Wie Arendts Freundschaft zu Leni Yahil so zerbrach auch die zu Scholem. Arendt entgegnete ihm, ihr wäre „diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt“. Deutlich schwingt hier die Zerrissenheit mit, das ungeschriebene Gesetz, als Jude oder Jüdin immer auch bedingungslos hinter Israel und seiner Politik stehen zu sollen. An diesem Punkt ist Hannah Arendts Auseinandersetzung mit ihren jüdischen Freunden um eine gemeinsame Positionierung zum israelischen Staat ein zeithistorisches Phänomen. Es ist kritischen Denkern wie Arendt zu verdanken, dass (differenzierte!) Kritik an Israel heute keineswegs mehr ein Tabu ist. Starken Gebrauch von dieser Möglichkeit machen in unseren Tagen gerade auch Juden in Israel und überall sonst auf der Welt, die dieses „lächerlich kleine Land“ aus einem unbelasteten Blickwinkel betrachten können – und zwar in aller Freundschaft. TOBIAS NOLTE