: SCHÖNE NEUE WELT
■ „Soylent Green“ von Richard Fleischer im Alhambra
Science-fiction-Filme machen das Unmögliche möglich: Sie suggerieren den Blick in die Zukunft, indem sie das Wahrscheinliche, das Mögliche oder schlicht das Denkbare sichtbar machen. (Johannes z.B. brauchte in seiner „Apokalypse“ weder Film noch sonst eine äußere Technik; sein visionäres Vermögen reichte, um die katastrophalen Verhältnisse der heutigen Zeit genauestens zu beschreiben d.S.) Manche kennen in ihrem Erfindungsreichtum keine Grenzen, erschaffen phantastische Welten, befreit von den Zwängen des Realismus oder der Wahrscheinlichkeit. Andere denken weiter, was sich jetzt schon absehen läßt; bei ihnen fußt das Futur schon im Präsens.
Die Vorstellungen darüber, wie die Metropole der näheren Zukunft aussehen wird, gehen im Kino indes weit auseinander. Ridley Scott etwa zeigt in seinem „Blade Runner“ das Los Angeles des Jahres 2019 als kosmopolitisches Sammelbecken der Nationalitäten. Die in permanente Dunkelheit getauchte, vom Dauerregen heimgesuchte Großstadt erscheint als Neonmeer, als Ort der visuellen Reize, als Labyrinth aus hypermodernen Bauten und verfallenen Vierteln. In James Camerons „Terminator“ haben im Jahr 2029 die Computer die Herrschaft übernommen; Los Angeles, nur noch Ruine seiner selbst, gleicht einem nuklearen Trümmerhaufen. Und in John Carpenters „Escape From New York“ wird ganz Manhattan zu einem überdimensionalen Gefängnis umfunktioniert, der Kern New Yorks im Jahre 1997 dem Verfall preisgegeben.
Rund 15 Jahre vor der Entstehung dieser - freilich waghalsigen - Vision drehte Richard Fleischer einen bescheideneren Stadtfilm: „Soylent Green“, zu deutsch „Jahr 2022... die überleben wollen“.
Im sengend heißen New York drängen sich 40 Millionen Einwohner um den kaum vorhandenen Wohnraum und die noch knapperen Lebensmittel. Die Hälfte der Menschen ist arbeitslos; bei der Verteilung der streng rationierten Nahrung - künstlich produzierte Synthetik-Kekse - kommt es regelmäßig zu bürgerkriegsähnlichen Tumulten. Fleisch, Obst, Gemüse oder Alkohol können sich nur die Allerreichsten leisten.
Ein Angehöriger dieser Oberschicht (Joseph Cotten), Ex -Manager der mächtigen Soylent Corporation, eben jener Firma, die die Nahrung herstellt, wird ermordet. Der mit der Aufklärung beauftragte Polizist (Charlton Heston) begreift schnell, daß es sich bei dem Mord um ein politisches Komplott handelt; das Opfer wußte zuviel. Unterstützt von seinem Mitbewohner Sol Roth (Edward G.Robinson) kommt er der Lösung des Falles Schritt für Schritt näher, erkennt schließlich, daß die Soylent Corporation eines grausiges Geheimnis hütet.
Charlton Heston spielt den Polizist als zynischen Obermacho, neben dem selbst Schwarzenegger als Liberaler und Eastwood als Feminist erscheinen würde. Er hat sich abgefunden mit dem Dreck und dem Elend seiner Stadt und sucht - bis kurz vor dem Ende - nur seinen persönlichen Vorteil. Die Seife, das Fleisch, die Äpfel, die er bei seiner Untersuchung erbeutet, sind seltene Schätze, und Edward G. Robinson macht durch sein Spiel konkret erfahrbar, was es bedeutet, nach vielen Jahren wieder frischen Salat zu kauen oder Whisky zu trinken. Von seinem Gesicht lassen sich die Freude über das gerade Gewonnene und der Schmerz über das im Grunde für immer Verlorene zugleich ablesen.
Am Ende nimmt er die Möglichkeit wahr, sich einschläfern zu lassen (noch so eine Errungenschaft einer überbevölkerten Welt). In einem vollklimatisierten Raum darf er sich, begleitet von klassischer Musik, einen Film ansehen über die Erde, wie sie vor langer Zeit einmal aussah. Verzückt betrachtet er das Meer und den Sonnenuntergang, die Berge und die Wälder, die Tiere und die Pflanzen. In der Zukunft, sagt uns dieser Film im Film, werden wir keinen Bedarf mehr haben an Science-fiction. Dann schaut man die Vergangenheit auf der Leinwand an und erinnert sich. Das ist natürlich sehr kitschig. (Trotzdem ist dieser Film einer der besten SF, die ich je gesehen habe; sehr zu empfehlen! - d.S.) Aber es treibt einem die Tränen in die Augen.
Frank Schnelle
Ab 18.August im Alhambra.
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