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Archiv-Artikel

SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON CHRISTOPH WAGNER

Eruptiv

Gunter Hampel Trio: „Challenge of the Now“ (Birth Records 066 / www.gunterhampelmusic.de)

Gunter Hampel ist ein Pionier des Free Jazz in Europa. Nach mehr als 40 Jahren ist der Multiinstrumentalist immer noch aktiv und pendelt seit Jahrzehnten zwischen Göttingen und New York, wo er längst zu einem Bestandteil der Lower-East-Side-Szene geworden ist. Sein amerikanisches Trio ist mit vorzüglichen Musikern besetzt: dem versonnenen Klarinettisten Perry Robinson und dem Schlagzeuger Lou Grassi.

Bei einem Konzert in der Knitting Factory im August 2002 verzauberten das Trio seine Zuhörer mit losen Improvisationen, die auf eigentümliche Weise wie auf nur vage vorgezeichneten Pfaden zu balancieren schienen – wobei weniger die Musiker als Solisten ihr Können unter Beweis stellten, als vielmehr das Ensemble als kollektive Einheit musizierte.

Manchmal klingt die Musik eruptiv und vehement, dann wieder lyrisch und leise. Es ist die wunderbare Offenheit der New Yorker Loft-Szene der Siebzigerjahre, die darin zum Ausdruck kommt. Hampel hat deren Essenz bewahrt und in die Gegenwart übertragen.

Phantomhaft

Faust: „Patchwork 1971–2002“ (Staubgold 37 / www.klangbad.de)

Faust gilt als mysteriöse Band. Weit ab vom Popgeschäft experimentierten die sechs Musiker in den frühen Siebzigerjahren im Schulhaus von Wümme bei Bremen mit repetitiven Mustern, Geräuschcollagen, Folksongs, elektronische Klängen, brachialen Lärmorgien und montonen Beats. Als reine Studioband waren sie nicht auf Konzerten präsent, was sie zu einer Art Phantom machte. Ihr Ansatz wurde als elitär empfunden, und ihre ersten beiden Alben von der deutschen Rockpresse derart verrissen, dass Faust ins englische Exil ging, um als erste Band beim neu gegründeten Virgin-Label unter Vertrag genommen zu werden. Doch nach zwei Alben kam es mit Virgin zum Zerwürfnis, und man kehrte nach Deutschland zurück.

Mitte der Siebzigerjahre warf die Gruppe das Handtuch, um erst in den Neunzigerjahren auf die Szene zurückzukehren, ohne etwas vom radikalen Geist der Gründerzeit eingebüßt zu haben. Das macht sie heute zu einer der wenigen Krautrockbands, die noch Relevantes zur Musik der Gegenwart beizutragen haben.

Über mehr als 30 Jahre spannen sich die Aufnahmen, die Keyboarder Joachim Irmler im Faust-Archiv ausgegraben hat. Es sind Schnipsel von Klängen, Rhythmen, Melodien und Songs, die so vielfältig, gegensätzlich und avantgardistisch klingen wie Faust eben war. Eine Musik, die nie vollendet ist, sondern zur Weiterverarbeitungen einlädt: Work in Progress.

Sonderbar

Dean Drummond & Newband: „Harry Partch“ (The Wayward Wergo WERG 6638 2 / www.wergo.de)

Ein Ofen wurde zum Instrument der Befreiung. Darin verbrannte Harry Partch 29-jährig seine bisherigen Kompositionen: Von nun an wollte er nur noch neue Musik machen, die den Namen auch wirklich verdiente. Partch fing an, alternative Stimmungssysteme zu erkunden und eigene mikrotonale Instrumente zu bauen. So entstanden über zwei Dutzend neue Klangerzeuger mit so rätselhafte Namen wie Dark Chamber Clouds.

Zwischen 1941 und 1943 schrieb er das Stück „The Wayward“, in dem er seine Erfahrungen als Hobo und Wanderarbeiter während der großen Depression der Dreißigerjahre verarbeitete. Die Texte, die rezitiert oder gesungen werden, entstammen seinem Tagebuch, in dem er die Eindrücke dieser Periode festhielt: „Ein sehr feines Mosaik aus einer unglaublichen Menge schmutzigen Geschirrs, namenlosen Gesichtern in Jobs der Arbeitsbehörde und vor allem namenlosen Gesichtern im Landstreicherdschungel und bei Obsternten.“

Seit 1990 ist sein ehemaliger Assistent Dean Drummond der Kurator des Instrumentariums von Partch, der 1974 verstarb. Mit seiner Newband erweckt Drummond die sonderbaren Klangerzeugnisse des Sonderlings und Visionärs auf so kompetente Weise zu neuem Leben, dass man meint, Musik von einem anderen Stern zu hören.

Rundum erneuert

Spaceways Inc.: „Version Soul“ (Atavistic ALP132CD / www.atavistic.com)

Ken Vandermark gilt als einer der kreativsten jungen Musiker der aktuellen US-Jazzszene. Der Saxofonist aus Chicago ist ein musikalischer Geschichtsforscher, dessen Erkenntnisinteresse allerdings auf die Gegenwart gerichtet ist. Vandermark besucht die Ahnengalerie der Jazzavantgarde nicht aus nostalgischen Gründen. Vielmehr dienen ihm richtungsweisende Musiker wie Eric Dolphy, Ornette Coleman und Steve Lacy als Bezugsrahmen für eine Improvisationsmusik, die den Geist der Erneuerung atmet.

Spaceways Inc. heißt ein Bandprojekt, mit dem Vandermark den musikalischen Kosmos des Jazzmystikers Sun Ra auszuleuchten versucht. Zurückhaltend fängt es an. Bass und Schlagzeug stecken mit einem entspannten Groove den Raum ab, in dem Vandermark dann in pointilistischer Manier mit seinem Saxofon sparsame Farbtupfer setzt. Mehr und mehr verdichten sich die gegenläufigen Linien zu einem komplexen Geflecht, in dessen Inneren es dann zu köcheln beginnt.

Visonär

Matching Mole: „March“ (Cuneiform Records RUNE 172 / www.cuneiformrecords.com)

Sie bestanden nicht einmal ein ganzes Jahr. Doch in diesem Zeitraum spielte die englische Formation Matching Mole zwei Alben ein, die Spuren in den Annalen der Rockmusik hinterlassen haben. 1971 war das Quartett vom Schlagzeuger und Sänger Robert Wyatt gegründet worden, um eine organische Synthese von Jazz und Rock zu schaffen. Doch im Studio wirkten Matching Mole gehemmt. Nur „live“ entfaltete die Band ihre ganze visionäre Fantasie. Wyatt federndes Schlagzeug, sein klangmalerischer Skatgesang, die kantigen Bassostinati und die kühnen Exkursionen von Elektrogitarre und E-Piano – all das machte die Formation zu einer der quirligsten Gruppen des Rockjazz, bevor dieser in seinen eigenen Klischees erstarrte.

Olympisch

Besh o droM: „Can’t make me!“ (Asphalt Tango Records CD ATR 0203 / www.asphalt-tango.de)

Gäbe es eine Musikolympiade, die Roma-Musiker vom Balkan würden dort alle Medaillen gewinnen: Nirgends wird mit so hoher Geschwindigkeit, mit so viel Viruosität und Artistik musiziert wie in Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. Meistens treten die Roma-Ensembles bei Hochzeiten auf, wobei ein flexibles Instrumentarium von Vorteil ist. Um die Braut von daheim abzuholen, sind laute Blasinstrumente gefragt, während später im Saal zur Tischbegleitung Hackbrett, Gitarre und Klarinette für gedämpftere Klänge sorgen.

Die junge Gruppe Besh o Drom aus Ungarn hat den Ehrgeiz, jede erdenkliche populäre Nummer im Repertoire zu haben. Deshalb umfasst ihre Programmliste auch Stücke, die weit über den Balkan hinaus bis nach Griechenland, Ägypten und Afghanistan reichen. Sie werden skrupellos ihrem Balkansound einverleibt. Besh o Drom heißt in der Zigeunersprache „Geh deinen eigenen Weg“, und genau das tun die acht jungen Musiker.

Schmerzhaft

Stefan Hiss: „König der Schmerzen“ (Banana CD 10400 / www.banana-records.de)

Im 19. Jahrhundert brachten deutsche Auswanderer Polkas und Walzer nach Nordmexiko und Texas, wo sie zum Kern der Texmex-Musik wurden. Stefan Hiss bringt die Conjunto-Klänge jetzt wieder in ihre alte Heimat zurück. Der Akkordeonist und Sänger hat die Originale intensiv studiert und manchen Liedtext ins Deutsche übertragen. Dabei sind allerlei Schmerzenssongs und Heldenlieder heraus gekommen, die im katholischen Pathos der Tejanos über Liebesleid, Herzensqualen und andere Härten des Lebens klagen. Mit Geige, Schlagzeug und Latin Percussion gelingt es seiner Begleitcombo, dezente Akzente zu setzen und die Background-Sängerinnen unterlegen die tränenschweren Melodien mit Engelsharmonien.

Die Musik ist auf derart perfekte Weise den tropischen Klängen der Texmex-Gruppen nachempfunden, dass Hiss bei jedem Straßenfestival in San Antonio ohne weiteres als Einheimischer durchgehen würde. Selbst an den deutschen Texten würde sich im Herzland von German-America niemand stören.