: SAGEN SIE „MADAM“ ZU MIR Von Ralf Sotscheck
Der erste Schultag nach den Sommerferien ist eine aufregende Sache: Die Kinder freuen sich über das Wiedersehen mit alten Freunden und begrüßen neue Klassenkameraden. Genauso geht es im Londoner Unterhaus am ersten Sitzungstag nach den Wahlen zu. Alt- Parlamentarier gratulieren sich gegenseitig, daß sie die unbequeme demokratische Prozedur heil überstanden haben, während die neuen Abgeordneten sich langsam an die bizarren Traditionen des Hauses gewöhnen müssen. Seit im Unterhaus Fernsehkameras zugelassen sind, kann die ganze Nation an dem unterhaltsamen Schauspiel teilhaben.
Im ersten Akt dieser Schmierenkomödie legte Premierminister John Major am Montag seinem erfolglosen Labour-Widersacher Neil Kinnock den Arm um die Schultern — ein Stilleben in Grau. Sodann ging es darum, den Parlamentssprecher zu wählen. Das Ritual dafür ist genau vorgeschrieben: Jeder Redner, der einen Kandidaten nominiert, muß zunächst darauf hinweisen, wie entsetzlich dieser Posten eigentlich sei. „Es ist der einsamste Job im Parlament“, sagte Hinterbänkler Michael Neubert pflichtgemäß, bevor er den ehemaligen Nordirland-Minister Peter Brooke vorschlug. In den vergangenen 40 Jahren hatte die Nominierung eines Kandidaten der stärksten Partei bereits für die Ernennung ausgereicht. Doch diesmal konnten sich die Torys nicht auf einen Kandidaten einigen, sondern stellten gleich fünf auf. Ein Tory-Parlamentarier, John Biffen, nominierte sogar die Labour- Abgeordnete Betty Boothroyd, die im Hohen Haus originellerweise als „BB“ bekannt ist. Um Brookes Chancen zu verbessern, ließ Alterspräsident Ted Heath bei der Verlesung der Kandidatenliste die Namen der anderen Tory-Bewerber kurzerhand weg. Die Rechnung ging jedoch nicht auf: Aus Rache stimmten über 70 Tory-Abgeordnete für Betty Boothroyd. Die „Mutter aller Parlamente“ — wie die Engländer das Unterhaus gern bezeichnen — hatte zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Frau an die Spitze gewählt. Und nicht nur das: „Fräulein Boothroyd ist außerdem die erste Sprecherin seit mehr als einem Jahrhundert, die nicht aus der Regierungspartei kommt, sowie die erste Ex-Stenotypistin und die erste Ex-Supermarkt- Kassiererin auf diesem Posten“, stellte der 'Guardian‘ im Stile des Guinness-Buchs der Rekorde fest. Und der 'Independent‘ bewunderte ihre bemerkenswerte Weitsicht: „Die ehemalige Kassiererin sagte vor Jahren zu einem Abgeordneten: ,Sagen Sie Madam zu mir.‘“ Und jetzt ist sie „Madam Speaker“. Na so was.
Eine wichtige Tugend eines Parlamentssprechers ist Bescheidenheit. Brooke versuchte in seiner Wahlkampfrede den Eindruck zu erwecken, er halte sich für nichts weiter als „eine Laus am Rand der Bettdecke Ihrer Majestät“. Das war jedoch zuviel des Guten. BBs Behauptung, sie sei aus tiefstem Herzen eine Hinterbänklerin, klang überzeugender. Doch damit nicht genug der Bescheidenheit: Es gehört zur Tradition des Parlaments, daß der Sprecher so tun muß, als ob er den Job nicht antreten wollte. Boothroyd spielte mit und ließ sich strampelnd von zwei Abgeordneten durch den Saal zu ihrem Thron zerren. Das Theater hat einen realen Hintergrund. Neun Speaker sind in der 700jährigen Geschichte des Parlaments eines gewaltsamen Todes gestorben. Heutzutage lebt der Trainer der englischen Fußball- Nationalmannschaft allerdings weit gefährlicher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen