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Rußlands Präsident gibt nicht auf. Trotz angeschlagener Gesundheit und zunehmender Kritik an seiner Politik will er bei den Wahlen am 16. Juni für eine zweite Amtszeit kandidieren. Seine Begründung: "Ich muß meine Aufgabe erfolgreich zu End

Rußlands Präsident gibt nicht auf. Trotz angeschlagener Gesundheit und zunehmender Kritik an seiner Politik will er bei den Wahlen am 16. Juni für eine zweite Amtszeit kandidieren. Seine Begründung: „Ich muß meine Aufgabe erfolgreich zu Ende bringen. Ich will das Land aus Unruhe und Sorge herausführen“

Jelzin steigt erneut in den Ring

Das Land entbrennt in Liebe zu seinem Präsidenten, Boris Nikolajewitsch Jelzin. Der wiederum zögerte lange, um diese Liebe zu erwidern. Erst gestern rang er sich durch, nun endgültig seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit bekanntzugeben... Die Propaganda des Präsidententeams kennt keine Hemmschwellen. Säckeweise seien in den letzten Wochen Briefe mit der Bitte an Präsident Jelzin eingegangen, sich noch einmal aufzuopfern. Seine Berater sahen sich genötigt, öffentlich darauf hinzuweisen, daß es zu diesem Mann keine Alternative gibt. Die Speichellecker haben in Rußland Hochkonjunktur. Alte Gewohnheiten werden wieder wach.

Zeitgleich mit dem Präsidenten kürte die Kommunistische Partei gestern ihren Vorsitzenden Gennadij Sjuganow zum Kandidaten. Einstimmig. Die Methoden der beiden Hauptkonkurrenten heben sich nicht voneinander ab. Sie haben dasselbe Vorbild, die graue Epoche der Breschnew-Stagnation, wo gesundgebetet wurde, was schon in Agonie lag.

Während Jelzin in seiner Heimatstadt Jekaterinburg den Wahlkampf eröffnete, sprengten seine Militärs in Grosny den Präsidentenpalast, das Symbol des tschetschenischen Widerstands. Der Präsident glaubt, wider die Zeichen der Zeit durch kompromißlose Brutalität genügend Wähler auf seine Seite ziehen zu können. „Ich muß meine Aufgabe erfolgreich zu Ende bringen, der ich mich ganz und gar gewidmet habe“, begründete er seine Entscheidung, ohne sich der Doppeldeutigkeit seiner Worte bewußt zu sein. „Ich bin sicher, ich kann das Land aus Unruhe, Sorgen und Unsicherheiten herausführen.“

Die Chancen einer Wiederwahl stehen äußerst schlecht. Statt Lösungen für Probleme vorzulegen, schafft er täglich neue. Die Umbesetzungen in seinem Team haben Abenteurer an das Ruder gelassen. Er versucht, seine erprobten populistischen Eigenschaften wiederzubeleben. Doch diesmal fehlt es an Glaubwürdigkeit. Zu deutlich hat er sich dafür in die Abhängigkeit von Sicherheitsstrukturen begeben, die sich in undurchsichtigen Machenschaften verstricken. Der „offenen Gesellschaft“ stellte er wieder eine abgeschirmte „geschlossene Macht“ entgegen.

Rußlands Wähler haben eine schwere Entscheidung zu treffen. Eigentlich haben sie gar keine Wahl. Denn zwischen dem aussichtsreichen Kandidaten Sjuganow und Jelzin gibt es mittlerweile nur noch marginale Unterschiede. Keiner weiß, wer die Leitung der Politik übernimmt, wenn Sjuganow Präsident werden würde. Trotz der einstimmigen Nominierung durch das Fußvolk ist die Kommunistische Partei äußerst heterogen, wobei die orthodoxen Kräfte überwiegen.

Gelänge es einem gemäßigten Sjuganow, die Extremisten im Zaum zu halten? Daran hegt die aufgeklärte Öffentlichkeit berechtigte Zweifel. Hinzu kommt, daß die Partei über keinen klaren politischen Kurs verfügt. Sie macht Politik, indem sie den Sozialneid schürt. Die Wohlfahrtsversprechungen scheinen eher aus diesem Motiv, denn aus einem kommunistischen Gleichheitsverständnis heraus begründet zu sein.

Jelzin realisiert, was die Kommunisten versprechen

In der Tagespolitik hat der Präsident zum Teil vorweggenommen, was die Kommunisten ihren Wählern erst versprochen haben. Die Verteidigung und der Rüstungssektor erhalten mehr Subventionen, Renten und andere Sozialleistungen wurden erhöht. Unlängst meldete sich Innenminister Kulikow zu Wort, es sei notwendig, Schlüsselsektoren der Wirtschaft zu renationalisieren. All das ist natürlich Wahlkampf.

Auch die Kommunisten können das Rad nicht mehr ungestraft zurückdrehen. Der Unterschied zwischen Jelzins und Sjuganows Mannschaft besteht darin, daß erstere ziemlich satt sind, während letztere schon wie hungrige Raben über den Feldern lauern. Sie wollen ihren Teil abkassieren.

In Moskau wird spekuliert, Sjuganow könnte im Falle seines Sieges den Kandidaten der liberalen Partei „Jabloko“, Grigorij Jawlinski, zum Premier machen. Das würde zumindest garantieren, daß bestimmte demokratische Errungenschaften nicht rückgängig gemacht würden. Ob sich Jawlinski dazu hergibt, ist allerdings fraglich. Dennoch häuften sich in den vergangenen Wochen Anzeichen dafür, daß beide Vorsitzenden einander nähergekommen sind. Sjuganow, der bisher noch für verschiedene Entwicklungen offen ist, könnte so innerhalb seiner Partei den schwachen sozialdemokratischen Flügel stärken. Klaus-Helge Donath, Moskau

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