Russlands Gesellschaft ist gespalten: Manche reden vom Wetter
Die Menschen in Russland verzweifeln. Der Angriff auf die Ukraine kann nicht mehr verleugnet werden. Eindrücke zwischen Indoktrination und Exil.
Wirklich schade, dass man Strelkow an die Front geschickt hat. Die Menschen brauchen ihn in Russland. Er ist der Stolz dieses Landes“, schreibt ein Blogger namens Der Kommissar, der verschwindet vor Kurzem über Igor Girkin, Pseudonym Strelkow – der Schütze. „Auch für ihn wird an der Front alles anders sein als im Jahr 2014. Wir haben nicht mehr ‚1918‘, wir haben ‚1942‘, wie in Stalingrad.“
Girkin-Strelkow, geboren 1970 in Moskau, war als Oberst der russischen Armee federführend bei der Besetzung der Ostukraine 2014. Er hat dort die Entführung und Ermordung von ukrainischen Lokalpolitikern angeordnet und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit verantwortlich für den Abschuss einer Passagiermaschine der Malasyia Airlines auf dem Flug von Amsterdam nach Kuala Lumpur am 17. Juli 2014 über dem Gebiet der Ukraine, bei dem alle 298 Insassen getötet wurden.
Vier Deutsche waren unter den Opfern. Girkin ist aufgrund seiner mutmaßlichen Beteiligung international zur Fahndung ausgeschrieben. Russland hat ihn nicht ausgeliefert. Seit 2020 findet im niederländischen Den Haag ein Prozess um den Flugzeugabschuss statt. Girkin wird darin als einer von vier Tatverantwortlichen geführt.
Social-Media-Einpeitscher
Bevor er wieder an die Front geschickt wurde, wurde er aus der Armee entlassen, auch beim FSB, dem russischen Inlandsgeheimdienst, wird er nicht mehr als Mitarbeiter geführt. Aber er war lange präsent, tummelte sich in den russischen sozialen Netzwerken und genoss da Starruhm. Telegram ist seine Hauptspielwiese, da hat Girkins eigener Kanal 750.000 Abonnenten. V-Kontakte, das russische Facebook, bespielt er auch. Seine „Ich erkläre Euch den Krieg“-Videos lädt er auf „brighteon“ hoch.
Mit der Noworossija(Neurussland)-Flagge im Hintergrund positioniert sich Girkin als Ultra-Hardliner, für den das eigentliche Kriegsziel im Anschluss aller Gebiete des im Zarenreich durch Binnenkolonialisierung entstandenen „Noworossija“ liegt. Das umfasste etwa auch Charkiw und Odessa. Vor wenigen Wochen setzt sich Girkin-Strelkow in einem Video mit dem 21. September, dem Tag der Teilmobilmachung, auseinander.
Der Social-Media-Oberst übt vehemente Kritik am Gefangenenaustausch, der gleichentags stattgefunden hat. Seiner Meinung nach hätte an den ukrainischen Asow-Kämpfern, die durch den Tausch frei kamen, die Todesstrafe vollstreckt werden sollen. Das Wort „erschießen“ verwendet Girkin im Bezug auf die ukrainischen Kriegsgefangenen, aber auch auf Jugendliche in Moskau, die gegen die Teilmobilmachung protestiert haben. „Man müsste sie nicht gleich erschießen, die bohemisierte Hauptstadtjugend“, aber man fasse sie viel zu sanft an. Denn die Jugend sei die Fünfte Kolonne.
Stalinistischer Terminus
Girkin-Strelkow übernimmt hier einen Terminus, den Stalin während des Zweiten Weltkriegs für Bevölkerungsgruppen in der Sowjetunion benutzte, die er des Landesverrats verdächtigte, zum Beispiel die Wolgadeutschen. Dann versteigt er sich zur Behauptung: „Die Wurzel dieser Fünften Kolonne geht hinauf bis in den Kreml.“
Direkte Kritik an Wladimir Putin vermeidet der harte Oberst, aber er kritisiert dessen Umgebung, die allgegenwärtige Korruption und die daraus resultierende Ineffizienz der russischen Armee bei der Kriegsführung in der „sogenannten Ukraine“ (Originalton Girkin). Er war und ist ein Überzeugungstäter. Und das ist wiederum der Grund für Tausende Russinnen und Russen, darunter viele Armeeangehörige, dem Ultranationalisten, der jetzt sogar wieder an der Front ist, auf Telegram zu folgen.
Zerstörerischer Putin
Anfang Oktober legt eine Frau einen handgeschriebenen Zettel auf das Grab von Putins Eltern in Sankt Petersburg: „Ihr Eltern eines Größenwahnsinnigen, nehmt ihn zu euch. Von ihm geht so viel Zerstörung aus. Ich wünsche ihm den Tod, ihr habt einen Mörder aufgezogen.“ Es ist die verzweifelte Aktion einer Einzelnen. Sie wurde inzwischen unter Hausarrest gestellt.
Der Telegram-Kanal „Archangel Speznasa Z“ der gleichnamigen Spezialeinheit zeigt unzählige Videoclips aus dem Krieg, die die Angehörigen der Einheit als unerschrocken darstellen. Die mehr als 600.000 Follower bekommen täglich bis zu zehn Posts dieser Art.
Vergangenen Samstag aber erfolgte plötzlich ein Crowdfunding-Aufruf: „Sehr geehrte Abonnenten, unsere Jungs an der Front brauchen eure Hilfe, was Ausrüstung und Technik betrifft.“ Es müssen besorgt werden: 9 Taschenlampen Armytrek, 20 Paar Stiefel Vaneda, ein Fernglas, 5 Feldapotheken March. „Es fehlen noch 500.000 Rubel.“ (Umgerechnet etwa 8.300 Euro)
Ende September schreibt ein junger Schauspieler aus Moskau einem engen Freund, der längst im Ausland lebt: „Einige Jungs haben sich das Leben genommen, nachdem sie den Einberufungsbefehl erhalten haben. Ich habe dazu nicht das Recht. Ich kann aber auch nicht abwarten, ob ich in der Todeslotterie gewinne oder verliere. Und darum muss ich jetzt alles verlassen, was mir vertraut und teuer ist. Mein Leben ist nun komplett fremdbestimmt. Von einem Tag auf den anderen hat man mir jegliche Hoffnung geraubt. Man hat mir mein Leben buchstäblich entrissen.“
Per Fahrrad nach Georgien geflüchtet
In Moskau gehen Anfang Oktober regimetreue Menschen auf die Straße und fordern tatsächlich „Auf nach Washington! Weg mit Biden!“ In Tiflis wird zur gleichen Zeit an jeder Ecke russisch gesprochen. Neun junge, geflüchtete Russen im wehrfähigen Alter zwischen 20 und 25 sitzen in einem Park. Seit vier Tagen sind sie in der Stadt. Einer ist mit dem Fahrrad über die russisch-georgische Grenze gekommen, die anderen haben sich per Direktflug nach Jerewan ins benachbarte Armenien abgesetzt und sind von dort mit dem Bus weiter in die georgische Hauptstadt gefahren.
Eine Hälfte ihrer Eltern sei für den Krieg, die andere dagegen, sagen sie. Und überlegen dann pragmatisch: Tiflis ist teuer, ihr Geld reiche gerade für drei Monate, also wollen sie so schnell wie möglich weiter in die billigere Türkei, da kann man neun Monate davon leben.
Auf dem Rustaveli-Boulevard, der Hauptstraße von Tiflis, geht eine Familie spazieren. Mutter (79), Sohn (46), Enkel (21). Sie sprechen russisch. Der Sohn lebt als regimekritischer Journalist schon seit Jahren im Ausland. Die Mutter in Moskau. Es ist ihr erstes Wiedersehen seit Kriegsbeginn. Der Sohn hat sein Ukraine-Unterstützungs-T-Shirt diesmal im Koffer gelassen. Das Thema „Krieg in der Ukraine“ wird von beiden Seiten umschifft. Dann rutscht der Mutter doch raus: „Euch geht es ja jetzt so schlecht im Westen!“ und „Ich hasse die Ukrainer!“
Radikalisierende Tendenzen auf der Bühne
Am Abend geht es ins russischsprachige Gribojedow-Theater. Eine Premiere steht an: „Stalin 24“, eine beißende Satire auf radikalisierende Tendenzen in der russischen Gesellschaft. Auf der Bühne stehen Schauspieler:Innen aus der Ukraine, aus Belarus, Russland, Turkmenistan und Georgien. Das Exil-Ensemble ist für fast alle Heimatersatz und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, aus der Passivität herauszutreten, sich auszudrücken und politisch zu positionieren.
Der Saal mit seinen fast 200 Plätzen ist ausverkauft, das (Exil-)Publikum steht auf und applaudiert anhaltend. Für die Dauer der Vorstellung entsteht so die gerade jetzt so wichtige temporäre Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die Kraft gibt, die Umstände des Exils auszuhalten.Und alle, die Spielenden und die Zuschauenden, sind hier Handelnde. Nur durch ihr Zusammenspiel wird die Kritik am System Putin öffentlich.
Selbst die Mutter des Journalisten lobt die Machart der Inszenierung. Auf den Inhalt des Stücks geht sie dagegen mit keinem Wort ein. Ihr Sohn insistiert nicht. Wann und ob man sich überhaupt wiedersieht, steht ohnehin in den Sternen. Lieber redet man übers Wetter, umarmt sich und freut sich, dass man sich noch hat.
Auf Telegram wird derweil zigfach ein Gedicht geteilt. Ein gewisser Andrej Orlow dichtet: „Ich habe geträumt, dass die Russen ein Land haben, von dem kein Krieg ausgeht, in dem nur eins wichtig ist: / Das Land braucht dich und du brauchst das Land / Dieses Land ist mit seinen Grenzen zufrieden, vor diesem Land muss man keine Angst haben. / In diesem Land geht es nicht ums Überleben, sondern ums Leben. / Und niemand zwingt dich, dieses Land zu lieben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe