■ Rußlands Demokratie liegt im Sterben: ... und der Westen redet und redet
„Wieder mal ein totales Déjà- vu-Erlebnis“ – so könnte Yogi Berra (bekannter Baseballspieler, der sich stets zu wiederholen pflegte, d. Red.) die gegenwärtige Lage in Rußland zusammengefaßt haben. Wieder einmal steht das Schicksal eines demokratischen Führers in Rußland auf der Kippe und über der Hilfe der Vereinigten Staaten kann man nur sagen: „zu wenig, zu spät“!
Wenn es um Rußland geht, weiß Washington immer noch nicht, wo es lang geht. Freitag letzter Woche hat eine Koalition aus Kommunisten, Faschisten und Opportunisten dem ersten demokratisch gewählten Führer in der Geschichte Rußlands den letzten Fetzen seiner Macht entrissen. Und während dieser ganzen Wochen hatte Washington nichts Besseres zu tun, als alle Schleusen der Rhetorik zur Unterstützung des bedrängten Präsidenten zu öffnen. Wie Ex- Präsident Nixon und Präsident Clinton in ungewohnter geistiger Übereinstimmung ihre Kräfte vereinten, so eilte das ganze Washingtoner politische Establishment, sich hinter „seinen“ Mann zu stellen. Jelzin, so hieß es, muß um jeden Preis überleben. Das war die durchgängige Washingtoner Linie, als es zwischen Jelzin und dem russischen Parlament zum Show- Down kam.
Strobe Talbott, Clintons Koordinator für die Rußland-Politik, muß noch eingeschworen werden, aber wenn das geschafft ist, steht dem Chef und seinem Gehilfen eine harte Runde Holzhackens bevor: 62 Prozent der Amerikaner sind gegen eine Erhöhung der Rußlandhilfe. Man könnte den Unterschied zwischen den westlichen Hilfsangeboten und der Hilfe, die Rußland tatsächlich braucht, einfach komisch nennen, wenn die Konsequenzen aus diesem Mißverhältnis nicht so schwerwiegend wären.
Wir müssen in der Geschichte über 70 Jahre zurückgehen, um seitens des Westens auf eine Politik von vergleichbarer Dummheit zu treffen. Im Gefolge des Ersten Weltkriegs trafen die deutschen Demokraten, als sie um westliche Hilfe beim Wiederaufbau ihrer zerrütteten Ökonomie nachsuchten, auf taube Ohren. Demokraten wie Gustav Stresemann und Friedrich Ebert riskierten ihre politische Karriere und selbst ihr Leben, um ein neues Verhältnis Deutschlands zum Westen aufzubauen. Der Westen hat sie mit Verachtung behandelt, er hat ihnen eine niederdrückende Schuldenlast aufgeladen, er hat ihnen einen Friedensvertrag aufgezwungen, der Millionen Deutsche dazu verurteilte, in neuen, anti-deutsch eingestellten Staaten als nationale Minderheiten zu leben. Klingt diese Geschichte unseren Ohren nicht vertraut? Sie sollte. Mit genau diesem Policy-Mix hat der Westen den demokratischen Aufbruch in Rußland begrüßt. Sowohl Michail Gorbatschow als auch Jelzin haben sich an den Westen mit der Bitte um Hilfe gewandt. Beide Männer haben zu spät gesehen, daß diese Hilfe niemals kommen würde.
In Deutschland wurden die enttäuschten Demokraten von den konservativen, nationalistischen Kräften besiegt, die sich nach Wiederherstellung der alten Ordnung sehnten. Es gelang den Konservativen, die Lage kurzfristig zu stabilisieren. Aber der ökonomische Absturz, kombiniert mit einer weit verbreiteten Verbitterung gegenüber dem Westen, brachte Hitler schließlich an die Macht. Als die deutschen Demokraten höflich nachfragten, reagierte der Westen barsch. Als aber Hitler drohend forderte, gab der Westen nach. Stopp der Schuldenzahlungen? Bruch der Abrüstungsvereinbarungen? Einmarsch in die Tschechoslowakei? Alles kein Problem!
Sicher, wir bilden uns gern ein, aus all unseren Fehlern gelernt zu haben. Aber wieder zeigen wir uns taub gegenüber östlichen Demokraten, während wir uns gegenüber östlichen Aggressoren in Appeasement üben. Siehe das serbische Beispiel. Nehmen wir an, daß Jelzin fällt und an die Stelle der vermischten Gesellschaft, die jetzt die politische Bühne Moskaus betreten hat, eine wirklich furchtbare Truppe tritt – ist es nicht mehr als wahrscheinlich, daß wir dann in eine neue Runde der Konzessionen und des Appeasements eintreten werden? Fragt die Bosnier!
Die größte Wolke, die über der Clinton-Administration hängt, ist nicht die Verringerung des Defizits, ist nicht die fällige Gesundheitsreform, es ist das Problem, ob Clinton es schafft, mit der Entwicklung in Moskau Schritt zu halten, statt ihr hinterherzulahmen. Das alles wird nicht einfach werden. Die zweite russische Revolution steckt noch in ihrem Anfangsstadium. Die alte russische Maschine ist noch mitten im Zusammenbruch. Der russische Zentralstaat fällt auseinander, während die Regionen ihren eigenen Weg gehen, ohne sich um die Dekrete des ohnmächtigen Zentrums zu kümmern. Die neuen Kräfte, die Rußland von Grund auf neu schaffen werden, die Unternehmer und die lokalen Führer, haben auf nationaler Ebene noch keine politische Repräsentanz gefunden.
Chaotische Situationen dieser Art sind der wirkliche Test für Staatskunst. Washington kann nicht all seine Eier in den Geschenkkorb legen – und sollte das auch nicht tun. Regierungen und Führer kommen und gehen, Rußland aber wird bleiben. Und es ist Rußland, nicht Jelzin oder sonst irgendjemand, das der Gegenstand unserer Politik sein sollte. Aber: Mittlerweile gibt es eine tiefe Kluft zwischen dem Sensorium, mit dem Washington auf geradezu verzweifelte Weise die Krise spürt und der zwergenhaften Hilfe, die Regierung und Kongreß bereit sind, zu leisten. „Ein neuer Marschallplan“ – hört man allerorten rufen. Aber bitte schön billig. Das wird nicht laufen.
Rußland braucht mehr, als die kombinierten Anstrengungen der USA und des übrigen Westens imstande wären zu geben. Paradoxerweise ist Rußland reich. Seine Öl und Goldvorkommen, seine Wälder, seine Getreidefelder gehören zu den größten Naturressourcen der Erde. Deshalb muß der Ausgangspunkt für unsere Rußlandpolitik sein, das Land in die Lage zu versetzen, seine „langfristigen Reichtümer“ in den Dienst einer kurzfristigen Aufgabe zu stellen: die Investitionen und Anpassungsmanöver in Angriff zu nehmen, die der russischen Ökonomie eine Kampfchance geben. Dabei würde es sich nicht um Auslandshilfe handeln. Auf der Grundlage von Rußlands natürlichen Ressourcen könnten die westlichen Regierungen vermittels der Weltbank oder anderer internationaler Institutionen Rußland mit Hunderten Milliarden Dollar versorgen. Die Anteile könnten dann an Privatfirmen verkauft werden, die ihrerseits die Kredite zurückzahlen würden.
Die Clinton-Regierung braucht für Rußland einen großen Entwurf. Das amerikanische Volk ist gegen massive Auslandshilfe und Geschenke für Rußland. Aber es versteht die dringende Aufgabe, Rußland stabil zu halten. Wenn es der Clinton-Regierung gelingt, ein massives Programm von Kreditvergaben auf den Weg zu bringen, das durch die russischen Naturreichtümer gedeckt ist, eine Art modernen Land-Leasings, wird der Absturz Rußlands ins Chaos verhindert werden können.
Nichts wäre wichtiger. Rußlands Probleme werden täglich drängender – und gefährlicher. Hier geht es nicht um einen Nebenschauplatz von Clintons Präsidentschaft. Die Außenpolitik wird ins Zentrum rücken und es sieht so aus, als ob sie dort auch bleiben wird. Walter Russell Mead
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen