Russlanddeutsche und Sprache: Der Zu-spät-Aussiedler
Der Vater unserer Autorin ist Russlanddeutscher, in der deutschen Sprache aber fasste er nie Fuß. Eine Geschichte über das Missverstandenwerden.
Schwer wiegt sie, die tiefe, dunkle, geheimnisvolle russische Seele, die beneidet, bekämpft, belächelt worden ist. Die ein Märchen ist, weil die Russen Märchen lieben. An der nichts dran ist, und die ganz genauso stimmt. Die ein Widerspruch ist, den man verstehen will, aber nicht immer kann. Die russische Seele will auch meistens gar nicht verstanden werden; sie ist eine Fremde, ein Mysterium. Sie wird viel missverstanden und verdreht, verkannt und missbraucht. Auch von den Russen selbst.
Ob die Seele meines Vaters so richtig russisch ist – das kann ich nicht beurteilen. Aber mit dem Unverstandensein und Nichtverstehen kennt er sich aus. Die russische Seele wiegt schwer, die deutsche Sprache noch viel mehr.
Als wir im Winter 2003 hierherkamen, ich war damals drei Jahre alt, konnte mein Vater fast kein Wort Deutsch. In der Heimat hatte er mit russischen Wälzern in der Hand getanzt und war im fließenden Übergang vom britischen Humor eines Charles Dickens zu späteren Dad-Jokes gesteppt.
In der Fremde wurde er sprachlos, aber es hielt ihn nicht vom Reden ab. Die ganzen Papiere. Behörden. Meine Mutter schwanger mit der zweiten Tochter. Ärzte. Jobs. Sehr viele Jobs, sehr viele schlechte Jobs.
Und trotzdem redete er einfach drauf los, mit den paar Vokabeln und der mein Gott wie verwirrenden deutschen Grammatik. Mein Vater war noch jung und sehr aufgeregt, manchmal im Guten, oft im nicht so Guten. „Wir sind Zu-spät-Aussiedler“, sagte er zu meiner Mutter.
Böser-Boris-Blick
Oft gab es Missverständnisse, wenn mein Vater mit jemandem Deutsch reden musste – und dadurch auch einige Situationen, die in unserer Familie bis heute immer wieder für Lacher sorgen: Im Heim für Spätaussiedler, ganz am Anfang. Mein Vater kommt ins Büro eines Sachbearbeiters. Er hat eine Frage, der Mann soll ihm und meiner Mutter weiterhelfen. Mein Vater verdreht die Worte, er sagt: „Wir können Ihnen helfen.“ Böser-Boris-Blick, unbewusst, auch so ’n Russending. Der arme Mann schaut ihn an und denkt sich wahrscheinlich, dass es eine Drohung ist.
Beim Frauenarzt, etwas später. Mein Vater kommt rein, meine Mutter sitzt da, wie man so dasitzt. Mein Vater ist überfordert und nervös. Er blickt den Arzt an und sagt in einem überraschend selbstbewussten Ton: „Auf Wiedersehen!“ Nach der Begrüßung setzt er sich auf den Stuhl und wartet.
Bei der Frisörin, viele, viele Jahre später. Er macht keinen Small Talk, klar, Russending. Seit Jahren geht er zu dieser Frisörin. Man lässt sich die Haare schneiden und schweigt dabei, und dann ist gut. Aber eines Tages kommt eine Frau rein, will einen Termin, die Frisörin kümmert sich kurz um sie. Mein Vater hört, dass die Frau sich einen Pony schneiden möchte. Er ist verwirrt und überlegt fieberhaft. Er redet nie mit seiner Frisörin. Aber es lässt ihm keine Ruhe. Als sie wieder an seinen Haaren ist, nimmt er seinen Mut zusammen, vermischt mit einer Portion Ratlosigkeit, und fragt sie, seit wann sie Pferdehaare schneide.
Sie versteht ihn nicht. Er sagt: „Na – Pony. Kleines Pferdchen!“ Entgeisterte Frisörin. Sie muss einem 40 Jahre alten Mann erklären, dass ein Pony auch eine Frisur ist. Er schweigt für den Rest des Termins. Sie verabschieden sich. Kurz danach schließt die Frisörin ihren Salon. Bis heute glaubt mein Vater, dass er sie dazu inspiriert hat, ihrer Leidenschaft fürs Pferdehaareschneiden nachzugehen – einer Leidenschaft, von der sie bis dahin selbst nichts wusste.
Mein Vater war Ende 20, als er nach Deutschland kam, eine neue Sprache zu lernen fiel ihm schwer. Er ging zum Sprachkurs. In den Examen sprudelten die Sätze nur so aus ihm raus, seine Lehrerin musste ihn stoppen. Er wurde Klassenbester, im Lokalblatt erschien sein Foto.
Leergefegtes Vokabular
Er schickte es seinen Eltern, die in Russland geblieben waren. Meine Schwester und ich hatten als Kinder viel zu lachen mit dem Sprachparcours meines Vaters. Jahrelang schuftete er in einer Fabrik, in der die meisten Kollegen Ausländer waren – vor allem Russen. Deutsch wurde fast nicht gesprochen und wenn, dann dieses herrlich gebrochene, pragmatische Halbsatzdeutsch.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Mit 45 Jahren wechselte mein Vater den Arbeitgeber. Das neue Unternehmen beschäftigte fast nur Deutsche; es sprach sich rum, dass man als Ausländer nur schwer einen Job bekam. Mein Vater schaffte es, doch vom ersten Tag an begleitete ihn Angst. Angst, etwas falsch zu machen. Angst, nicht schnell genug die neuen Aufgaben zu lernen. Und vor allem eine ungeheuerliche Angst davor, in der Mittagspause von einem Kollegen angesprochen zu werden.
Mein Vater hatte über die Jahre erneut seine Sprache verloren. Deutsch sprach er nur in den unvermeidlichen Situationen, im Supermarkt oder wenn ein Handwerker vorbeikam. Er hörte deutsches Radio und schaute deutsche Nachrichten. „Aber sobald ich selbst zu sprechen begann, kam aus meinem Mund nichts Verständliches raus“, erinnert er sich heute.
Da saß er nun mit Mitte 40 am Pausentisch seines neuen Arbeitgebers und war – geschockt. Darüber, dass seine Sätze noch brüchiger, sein Vokabular noch leergefegter war, als er befürchtet hatte.
Und er war frustriert. Wenn mein Vater nach der Schicht nach Hause kam, blieb er beim Essen für sich. Sprach kaum über die Arbeit. Verschwand ins Wohnzimmer und spielte Playstation. Deren Systemsprache stellte er eines Tages auf Deutsch um. Genauso schlagartig flatterten Buchbestellungen rein, deutsche Bücher, Remarque und Rilke.
Wir freuten uns darüber, dass unser Vater Netflix abonnierte. Erst später bemerkte ich, dass er gezielt Serien auf Deutsch schaute. Manchmal mit, manchmal ohne Untertitel.
Über Wasser halten
Mein Vater hatte der Sprachlosigkeit erneut den Kampf angesagt. Vor knapp 20 Jahren hatte er keine Wahl gehabt. Dieses Mal hatte er sich bewusst dafür entschieden, sich aus seiner Komfortzone rauszuzwingen. „Das war der letzte Waggon eines vorbeirasenden Zuges, auf den ich noch aufspringen konnte“, sagt er. Der Zug war nur vordergründig die deutsche Sprache – viel mehr war es ein Gefühl des Ankommens in einem Land, das mein Vater nie als seine Heimat bezeichnen würde. Aber vielleicht auch nicht länger als eine Fremde.
Wirklich willkommen, sagt mein Vater, fühlte er sich beim ersten Schichtfest. Fließt Alkohol, versteht man sich plötzlich – das gilt für uns Russen wie auch für Deutsche. Heute, nach über drei Jahren, sagt mein Vater, hätten sich seine Kollegen an ihn gewöhnt, verstünden ihn. Die Angst, die ihn früher auf dem Weg zur Arbeit begleitete, ist Lockerheit gewichen. „Und ich rede Deutsch jetzt vielleicht zwei Prozent besser als davor.“
Als mein Onkel vor einigen Monaten bei demselben Arbeitgeber anfing, konnte ihm mein Vater gleich ein paar Tipps mitgeben: Glaub nicht, die Leute dort sind so viel anders als du – am Ende sind wir alle Kollegen. Sag immer, du willst etwas selbst machen, dann lernst du es schneller. Such dir einen Ansprechpartner, finde eine Fahrgemeinschaft.
„Ich halte mich gerade so über Wasser“, sagt mein Vater während unseres Gespräches, hält sich eine Hand unter sein Kinn, reckt das Gesicht nach oben und lacht. Bis heute hat er immer mal wieder diese Momente der Unsicherheit, klar, und dann rutscht auch schon mal der falsche Artikel raus, oder aus Sommersprossen wird Sprossensommer.
Als Kinder fanden meine Schwester und ich das lustig: klassischer Papasatz! Aber heute erahne ich den Schmerz meines belesenen, allwissenden Vaters, wenn er sagt: „Ich habe oft das Gefühl, eingeschränkt zu sein, wenn ich Deutsch rede. Ich kann meine Gedanken nicht so formulieren, wie ich es möchte.“
Auf Russisch geht das problemlos. Irgendwann in unserem Gespräch sagt mein Vater: „Sprache unterscheidet uns von Tieren. Für den Menschen existiert nichts, was er nicht in Worte fassen kann.“ Und das ist ebenfalls ein klassischer Papasatz.
Die hohe Kunst des Fleischgrillens
Dass ich die deutsche Sprache nicht nur fließend spreche, sondern sie als Journalistin zu meinem Beruf gemacht habe, erfüllt meinen Vater mit Stolz. Vor Kurzem wurde einer meiner Texte in einem Magazin abgedruckt. Eigens für seine Arbeit hat mein Vater eine zusätzliche Ausgabe gekauft und sie dort im Mittagsraum ausgelegt.
Diesen Stolz verspürt er auch, wenn meine Schwester und ich auf Netflix US-Serien im Original ansehen, oder ich im Familienurlaub in Frankreich das bisschen Schulfranzösisch einsetze. „Ich habe in diesen Momenten das Gefühl, dass sich alles in meinem Leben richtig gelegt hat. Ihr seid weitergekommen als eure Eltern – und genau so gehört es sich.“ Mein Vater lächelt bei diesen Sätzen wie ein Mensch, der so etwas wie Seelenfrieden gefunden hat.
Ach ja, da war doch noch was mit der Seele.
Ob die Seele meines Vaters so richtig russisch ist – das kann ich nicht beurteilen. Aber mit dem Unverstandensein und Nichtverstehen kennt er sich aus. Ebenso damit, die Welt um sich herum besser zu verstehen, indem er – zumindest langsam – ein Teil von ihr wird. Ohne eine gemeinsame Sprache funktioniert das wohl nicht. Aber man muss ja nicht nur reden. Haben meinem Vater deutsche Bücher und Netflix geholfen? Sicher. Nicht weniger jedoch das Biertrinken mit den Kollegen nach Feierabend, Schichtfeste und Gespräche über die hohe Kunst des Fleischgrillens.
Die russische Seele wiegt schwer, das Ankommen in der Fremde noch viel mehr.
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