■ Rußland will die KSZE wiederbeleben: Die Gefahr der Renationalisierung
Im Zehnpunkteprogramm zur Herbeiführung der deutschen Einheit, das Kanzler Kohl im Herbst 1989 verkündete, firmierte die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) noch als „Herzstück der europäischen Architektur“. Beim Pariser Gipfel ein Jahr später versprachen die Staats- und Regierungschefs der damals noch 35 KSZE-Staaten in der „Charta für ein neues Europa“ feierlich, künftig alle Probleme auf dem Gebiet zwischen Atlantik und Ural gemeinsam im Rahmen dieser einzigen gesamteuropäischen Institution anzugehen.
Bis heute blieb beides weitgehend leere Rhetorik. Tatsächlich verwandten die Regierungen in Bonn und den anderen westlichen Hauptstädten seither fast alle politischen Energien und materiellen Ressourcen auf die Neulegitimierung der Nato, den Ausbau der EU sowie den Aufbau neuer westlicher Sicherheits- und Militärstrukturen wie etwa WEU und Euro-Corps. Im innerjugoslawischen Konflikt durfte die KSZE lediglich eine Alibirolle spielen, während sich die westeuropäischen Staaten im Rahmen ihrer Institutionen und teilweise in Konkurrenz zueinander um eine Lösung bemühten und katastrophal scheiterten.
Weil ihre Erwartungen an die KSZE vom Westen enttäuscht wurden, setzen die mittelosteuropäischen Staaten inzwischen auf eine Nato-Mitgliedschaft. Doch eine Ausweitung des Militärbündnisses, die ihnen die verlangten Sicherheitsgarantien bietet, zugleich aber keine neue Front gegen Rußland errichtet, ist die Quadratur des Kreises. Der Westen wird hierfür kein schlüssiges Konzept finden. Die jüngste Kontroverse zwischen den Minstern Kinkel und Rühe hat dies erneut deutlich gemacht. Die enttäuschten Hoffnungen zunächst auf die KSZE und inzwischen auf die Nato aber führen nun in Mittelosteuropa zur Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitiken. Zumal Unklarheit über die Außen- und Sicherheitspolitik des großen Nachbarn im Osten herrscht.
Der Westen sollte daher konstruktiv auf die Initiative zur Wiederbelebung der KSZE reagieren, die Präsident Jelzin auf der Vorbereitungskonferenz für den KSZE-Gipfel im Dezember in Budapest jetzt vorgelegt hat – auch wenn einige Details dieser Initiative problematisch sind und der Diskussion bedürfen – wie etwa Moskaus Vorschlag für ein KSZE-Leitungsgremium ähnlich dem UNO-Sicherheitsrat. Insbesondere auf Jelzins Angebot, Rußlands Peace-keeping- Operationen im „nahen Ausland“ (in den GUS-Staaten) wenigstens in einen KSZE-Rahmen einzubinden und damit gewissen Prinzipien und Kontrollen zu unterwerfen, sollte der Westen schnell positiv reagieren. Ein zu langes Abwarten oder gar eine offene Ablehnung dieses Angebots würde nur die nationalistischen Gegner Jelzins stärken. Andreas Zumach
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