Russland schlägt Niederlande: Die holländische Krankheit
Kaum sind sie Favoriten, fährt den Holländer die Angststarre in die Glieder. Verdient scheiden sie gegen die in allen Belangen überlegenen Russen aus.
BASEL taz Es dauerte nur wenige Minuten, da war allen im Basler St. Jakob-Park klar, dass an diesem Abend etwas anders laufen würde, als während der orangenen Wochen zuvor. Statt niederländischer Euphorie und Zuversicht lag ein Schleier lähmender Angst über der Arena. Das kleine Häuflein Russen in der Ecke sang und feierte, während die orangenen Wände rund um das Spielfeld vom Anstoß weg Sorge und Furcht ausstrahlten.
„Ich weiß auch nicht was los war“, sagte Trainer Marco van Basten später, „ich glaube wir waren nervös“. Das war eine freundliche Beschreibung des holländischen Befindens während dieses EM-Viertelfinals. Es handelte sich um die Rückkehr der niederländischen Fußball-Neurose, die immer dann sichtbar wird, wenn es wirklich etwas zu gewinnen gibt. Am Ende sind sie wie so oft mit hängenden Köpfen, Tränen in den Augen und den Gehirnen voller Rätsel davon geschlichen.
Mit größter Mühe und viel Glück hatten sich die Holländer zuvor noch sich in die Verlängerung geschleppt, dort wurden sie dann aber von den in allen Belangen überlegenen Russen endgültig auseinander kombiniert. Das 3:1 (0:0, 1:1) des Außenseiters, „war vollkommen verdient“, musste van Basten anerkennen. Er war ratlos. Außerstande die Ursachen für den plötzlichen Verlust der großen Spielfreude, der Geschwindigkeit, der fußballerischen Brillanz der erste Partien zu benennen.
Nur die Symptome konnte Van Basten greifen, sprach von „physischen Problemen“, verstand aber auch nicht, woher diese kamen. Schließlich hatten die Holländer mehr Erholungszeit gehabt und die wichtigsten Spieler außerdem im dritten Vorrundespiel geschont. „Wir waren nie in diesem Spiel, wir haben nie richtig Fußball gespielt, nie wirklich an diesem Spiel teilgenommen. Es war schon erstaunlich, dass wir so lange ein 0:0 hielten“, analysierte van Basten.
Sie brauchten einen Freistoß, um kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit Romam Pavlyuchenkos wunderbar herauskombinierte Führung (56.) auszugleichen. Ruud van Nistelrooy traf per Kopf, und für einen Moment kursierte der Gedanke, dass dieses neue Holland des Marco van Basten vielleicht ein bisschen so geworden sein könnte wie das alte Deutschland: Schlecht spielen, gegen einen Gegner, der fahrlässig Chancen vergibt, und am Ende als glücklicher Sieger ins Halbfinale einziehen. Vielleicht sogar im Elfmeterschießen. Doch die Sbornaja war einfach zu gut.
Russlands Trainer, der Niederländer Guus Hiddink, traute sich nach der total überlegen geführten Verlängerung kaum, seine Analyse zu auszusprechen. „Ich weiß nicht, ob ich es realistisch sehe“, begann er vorsichtig, „doch mein Team war heute technisch überlegen, in der Ballkontrolle überlegen, physisch überlegen und auch taktisch deutlich besser als unsere Gegner.“ Neben der unerklärlichen Lähmung des Favoriten war diese atemberaubende Stärke der jungen Russen die eigentliche Überraschung des Abends.
Denn dort standen Spieler auf dem Platz, die vielen Experten auf der Tribüne völlig unbekannt waren. Einige der anerkanntesten Fachleute reichten sich auf der Pressetribüne Listen mit den Grundinformationen über die Russen wie Alter und Vereine herum. Diese wunderbaren Unbekannten wollte jeder näher kennen lernen, denn sie spielten einen hinreißend schnellen, technisch höchst komplexen und kraftvollen Kombinationsfußball.
Nicht nur die Fachwelt staunte, auch Hiddink konnte es kaum fassen: „Ich habe keine Spieler, die schon auf Champions-League-Level gespielt haben“, sagte er, „für mich ist es selbst immer wieder erstaunlich zu beobachten, dass diese Mannschaft unglaublich schnell die internationalen Regeln dieses Spiels lernt.“
Der überragende Andrej Arschawin, dieser fantastische Stürmer und einer der wenigen, den alle schon vorher kannten, gab das Lob umgehend zurück. „Der bessere Holländer, nämlich unser Trainer, hat heute gewonnen“, sagte der Exzentriker, der während der ersten beiden Partien aufgrund eines Platzverweises aus der Qualifikation gesperrt gewesen ist. Nun hatte er das 2:1 von Dimitri Torbinski vorbereitet (112.) und den dritten Treffer selbst erzielt (116.). Mit Arschawins Rückkehr wurde das Spiel der Russen zu einem aufregenden Tempofußball veredelt.
Gut möglich, dass dieser Abend irgendwann einmal als jener Moment gelten wird, an dem eine große Fußballmannschaft ins Bewusstsein der Fußballwelt hervorstieß. „So kann Russland auch Europameister werden“, sagte van Basten, und vielleicht ist es ein kleiner Trost für den Trainer, dass die in der Vorrunde so wunderbaren Holländer jenseits all ihrer neurotischen Lähmungen einen würdigen Meister gefunden haben.
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