: „Rußland ist doch kein Bettlerland“
Moskau (ap/taz) — Die Versorgungskrise in Moskau ist am Samstag von konservativen Medien in der UdSSR ausschließlich auf Mängel im Verteilungssystem zurückgeführt worden. Nachschub für Moskau sei angeblich in Hülle und Fülle vorhanden — nur rolle er nicht. Die Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ schrieb, nach dem Stand vom Freitag gebe es auf Güterbahnhöfen über 700 mit Fleisch, Molkereiprodukten, Zucker und anderen Nahrungsmitteln beladene Waggons, deren Inhalt nur verteilt werden müßte. Abgeordnete des Obersten Sowjet verlangten eine Einstellung der internationalen Hilfe und warfen Gorbatschow vor, er mache die UdSSR zum „Bettlerland“.
Demgegenüber erklärte das stellvertretende Stadtoberhaupt und zur progressiven Fraktion gehörende Politiker Sergei Stankewitsch vor der Presse, alle großen Städte einschließlich Moskaus und Leningrads seien auf internationale Nahrungsmittel- und Medikamentenspenden angewiesen, ohne die sie nicht überleben könnten, „zumindest nicht bis zum Frühjahr“. Moskau habe 1,2 Millionen Einwohner mit geringem Einkommen, und rund 500.000 davon hätten Hilfe dringend nötig. Die 'Sowjetskaja Rossija‘ machte das „Mißmanagement“ der von demokratischen Politikern dominierten Stadtverwaltung Moskaus für die Notlage verantwortlich. Nach Angaben der unabhängigen Nachrichtenagentur 'Interfax‘ äußerten auch Abgeordnete des rechtsgerichteten Zentristischen Blocks am Freitag bei einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Unionssowjets, Iwan Laptew, scharfe Kritik an Gorbatschows Politik und verlangten, die ausländische Hilfe unverzüglich zurückzuweisen. Der sowjetische Staatssicherheitsdienst (KGB) hat mehrere Komplotte aufgedeckt, bei denen dringend benötigte Lebensmittel in dunkle Kanäle geleitet wurden. Wie 'Tass‘ am Sonntag meldete, kündigte der KGB Strafanzeigen gegen die Verantwortlichen an. Die Verteilung der internationalen Hilfslieferungen geriet unterdessen offenbar ins Stocken. Sowjetische Zeitungen berichteten von festliegenden Schiffen in mehreren Häfen und Güterwaggons auf Moskauer Bahnhöfen, die wegen Mangels an Lastwagen, Fahrern und Lagerraums nicht entladen werden können.
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