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■ Rußland: Jelzin entläßt fast die gesamte RegierungTabula rasa

Angekündigt hatte Jelzin es schon letzte Woche: Die Regierung Wiktor Tschernomyrdin müsse sich auf einschneidende Veränderungen gefaßt machen. Nun zog der Kremlchef gleich mit der Axt in den Wald. Außer Premier Tschernomyrdin, den er nicht entlassen kann, um die Zustimmung der kommunistisch dominierten Staatsduma nicht zu gefährden, bleibt nur noch Anatoli Tschubais auf Posten – als frisch ernannter Vizepremier. Treffender als zweiter Regierungschef. Denn seine Aufgabe wird es sein, dem blassen Premier nicht nur zu mehr Originalität zu verhelfen, sondern auch das knirschende Regierungsgetriebe mit zeitgenössischer Technologie auszustatten. Obwohl mehrfach in Angriff genommen, kam die Kabinettsreform niemals in die Gänge. Seit Sowjetzeiten hat sich an der Struktur nichts geändert. Der hypertrophe Regierungsapparat mit über 60 Ministerien und Subdidvisionen wirkte in jeder Beziehung als Bremser.

Boris Jelzin hat es erkannt (oder gespürt), daß dies die letzte Chance ist, die festgelaufenen Reformen noch einmal anzuschieben. Gelingt es ihm nicht, hat er seinen Platz in den Geschichtsbüchern zwar sicher – als einer unter vielen Herrschern, die guten Willens waren, doch vor Rußlands grundsätzlich chaotischer Wirklichkeit auf halbem Wege die Segel strichen.

Die Stimmung im Land hat sich im vergangenen dreiviertel Jahr deutlich verschlechtert. Allzu durchsichtig sind die Machenschaften der herrschenden Lobbies. Sie führen Patriotismus im Munde – und bereichern sich schamlos. Obwohl an der Macht, schien ihnen selbst die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten noch zu popelig. Die Reformen müssen gegen diese gefräßige Oligarchie durchgesetzt werden.

Anatoli Tschubais soll nun den Kurs korrigieren. Talent hat er bewiesen. Wenn jemand in Moskau der westlichen Welt mehr abgewinnt als nur Schmock und Glitter, dann ist es wohl er. Daher weiß Tschubais, welche herakleische Aufgabe vor ihm liegt. Reichen Zeit und Kraft, um dem unausweichlichen Widerstand der Finanz- und Rohstoffbarone Paroli zu bieten? Oder ist nicht auch er ihre Geisel? Schließlich engagierten sie ihn, um Jelzins Wiederwahl zu garantieren.

Beweist er indes Unabhängigkeit, könnte der höchst unpopuläre ehemalige Privatisierungsminister zu einem aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten heranreifen. Klaus-Helge Donath

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