Russisches Giftgas am Ostseegrund

ORB-Magazin „Ozon“ nennt die geheimen Fundstellen/ 55.000 Tonnen Giftgas haben die Russen versenkt/ Insgesamt 300.000 Tonnen Kampfstoffe am Ostseegrund  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) — Die UdSSR hat in den Jahren 1945 bis 1947 rund 55.000 Tonnen Giftgas und andere Kampfstoffe in der Ostsee versenkt. Das Gift wurde vor allem 110 Kilometer südwestlich von Klapeida (Litauen) und vor der Küste von Bornholm versenkt. Das Umweltmagazin „Ozon“ des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg verfügt jetzt erstmals über genaue Fundorte für dieses Gift.

Die Sowjets hatten nach dem Zweiten Weltkrieg vor Litauen und vor Bornholm Tabun und Senfgas (Lost) aus deutscher Produktion versenkt. „Sie haben damals deutsche Kriegsgefangene die Granaten über Bord werfen lassen“, so der Autor des morgen abend ausgestrahlten Films, Peter Krüger. Auch die Westalliierten hatten zur gleichen Zeit große Mengen Giftgasgranaten und Zyklon-B-Patronen aus den Konzentrationslagern in der Ostsee versenkt. Allerdings hatten sie dafür stark beschädigte Schiffe notdürftig wieder zusammengeflickt, mit dem Gift beladen und dann als Ganzes in der Ostsee versenkt. Insgesamt sollen nach alliierten Angaben 3.028.547 Tonnen toxisches Material in der Ostsee abgekippt worden sein.

Während die Versenkungsstelle für die rostenden Giftgasgranaten vor der dänischen Insel Bornholm inzwischen relativ genau bekannt ist, war der genaue Ort der Verklappung vor der litauischen Küste bislang russisches Staatsgeheimnis. Krüger konnte nun mit russischen Experten von St. Petersburg aus eine Seereise zum Fundort machen. Die Bomben sind danach rund um den Schnittpunkt des 19. Breitengrades Ost und des 56. Grades nördlicher Länge versenkt worden. Der Seeweg nach Danzig in Polen und nach Klapeida in Litauen ist von dort aus ungefähr gleich weit.

Krüger berichtet weiter, daß ein Großteil der in den vierziger Jahren versenkten Waffen inzwischen ausgelaufen ist. Während sich das Kampfgas Tabun aber im Ostseewasser verdünnt, warnen Toxikologen vor Kontakten mit Senfgas- Ablagerungen auf dem Meeresboden. Dieses Lost legt sich wie ein Film über den Meeresboden und ist auch heute noch lebensgefährlich.

Gefahr geht an dieser Stelle allerdings nicht nur von den Chemiewaffen aus dem Zweiten Weltkrieg aus. Am gleichen Ort haben die Sowjets auch später noch Chemikalien abgekippt, deren Zusammensetzung nach wie vor geheimgehalten wird. Auch die Nationale Volksarmee der DDR hat die Ostsee hier als wohlfeile Müllkippe für Chemiewaffen benutzt.

Während deutsche Experten immer noch davon ausgehen, daß man die Kampfstoffe besser nicht bergen sollte, hat die russische Firma Komtesch nach Krügers Angaben ein Verfahren entwickelt, um marode Giftgasgranaten doch wieder hochzuholen. Danach wird eine unten geöffnete Box mit flüssigem Stickstoff auf den Meeresgrund heruntergelassen. Der Stickstoff soll die Bombe und ihre Umgebung einfrieren und so ein schadloses Bergen ermöglichen.