Russischer Underground: Schwules Ufo in Moskau
Wegen des Grand Prix reisen viele Schwule und Lesben nach Moskau - immer dort zu leben wäre für sie nur hinter verschlossenen Türen lustig.
BERLIN taz | An den Rändern von Moskaus Boulevards, vollgestopft mit rasenden, rußenden Vehikeln, hängen seit Wochen die Plakate für den nahenden Eurovision Song Contest. Ein europäischer Sangeswettstreit, zum ersten Mal in Moskau: ein Prestigegewinn für die Mächtigen Medwedjew und Putin. Ein Event, ausgerechnet von jenen Leuten organisiert, gestaltet und begleitet, von denen man in Russland offiziell nichts hören und sehen möchte: Schwulen und Lesben.
In Moskau, Hauptstadt einer Weltmacht, laufen Fäden aus diversen Kulturkreisen zusammen, die meisten eher aus dem Osten als aus dem Westen. Ein Faden, der definitiv nach Europa führt, ist jener der Homobewegung: "Go West!", dieser die Sowjetunion-Vergangenheit ikonografisierende Song der Pet Shop Boys, ist die heimliche Hymne der Schwulen und Lesben. Seit einigen Jahren haben sie sich, ansatzweise, ihren eigenen Westen im Osten gebaut: eine schwullesbische Infrastruktur mit Clubs, Bars, Restaurants und Saunen, die jener in Amsterdam oder Berlin in nichts nachsteht.
Es funktioniert, wenn auch nur unter einer Bedingung: Es darf nichts sichtbar sein. Wer die Tarnkappe lüftet, bekommt aufs Maul. Die Bilder von blutüberströmten, misshandelten Moskauer Gay-Pride-Teilnehmern, inklusive Volker Beck, kennt man aus dem Fernsehen. Die Paraden wurden 2006 und 2007 vom Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow verboten. Als die Teilnehmer dennoch durch die Stadt zogen, wurden sie von Sicherheitskräften, orthodoxen Christen und Nationalisten brutal attackiert.
Doch die Aktivisten der Bürgerrechtsorganisation Gayrussia.ru geben nicht klein bei: Sie wollen am 16. Mai, dem Tag des Eurovision-Song-Contest-Finales, die Gelegenheit internationaler Aufmerksamkeit nutzen, um für die Rechte von Schwulen und Lesben zu demonstrieren. Die Moskauer Stadtverwaltung zeigt im Vorfeld ihrerseits Flagge, und zwar keineswegs in den Farben des Regenbogens: "Alle Durchführungsversuche werden von den Behörden mit allen Mitteln gestoppt", erklärt Behördensprecher Leonid Krutakow. Es läuft wohl erneut auf Bilder von niedergeknüppelten Demonstranten hinaus.
Das Ereignis: Der Eurovision Song Contest findet in diesem Jahr in Moskau statt. Die Party steigt traditionell im Heimatland des Vorjahresgewinners, das war 2008 in Belgrad der russische Popsänger Dima Bilan. Finale ist am 16. Mai. Für Deutschland tritt der offen schwule Oscar Loya an.
Die Situation: Tausende Polizisten sollen während der Grand-Prix-Woche vom 9. bis 17. Mai auf Moskaus Straßen für Ordnung sorgen. Aus dem Ausland werden 5.000 Gäste erwartet, unter ihnen sind sehr viele homosexuelle ESC-Fans.
Das Politikum: Russische Schwule und Lesben erhoffen sich durch den Grand Prix eine internationale Beachtung ihrer bedrückenden Situation. Beim letzten Gay Pride wurden in Moskau Demonstranten von Nationalisten und Orthodoxen verprügelt. Von Seiten der EBU, Veranstalterin des Eurovision Song Contests, gibt es keine offizielle Unterstützung für gayrussia.ru, Solidaritätserklärungen der auftretenden KünstlerInnen blieben bislang aus.
"In der Sowjetunion gab es keinen Sex", dieses Zitat aus einer alten Fernsehsendung ist bei Russen ein geflügeltes Wort, ein Running Gag. Zum Erbe der Sowjetunion gehören das jahrzehntelange Beschweigen und die Unterdrückung der Homosexualität, die erst Anfang der Neunziger unter Boris Jelzin entkriminalisiert wurde. Bis heute existiert weder eine offene Bürger- noch eine Zivilgesellschaft, es gibt keinen öffentlichen Diskurs, keine von Anne Will moderierten Erregungskurven.
Die real existierende Schwulen- und Lesbenszene trifft sich nahe der ehemaligen KGB-Zentrale im Stadtteil Kitai Gorod. Vor dem Prachtgebäude mit seinen berüchtigten Kellerverliesen kann man nachts sogar schmusende lesbische Paare beobachten - Männer jedoch niemals. Dass zwei Frauen sich küssen, kennt die postsowjetische Gesellschaft aus Pornofilmen. Es wird gern gesehen, solange die Frauen gut aussehen - und nicht ernst genommen.
Jelena Zärtlich, Dozentin für deutsche Literatur an der Universität Moskau, ist lesbisch. Sie geht auf die sechzig zu, ihr Coming-out hatte sie erst nach dem Ende der Sowjetunion, in ihrer zweiten Lebenshälfte. Die Mutter von drei Kindern ist eine Institution in der Moskauer Lesbenszene, die Zärtlich ist Sängerin, ihre Texte verfasst sie selbst, auch ihr Nachname ist frei erfunden: "Wenn das herauskommt, verliere ich meinen Job. Sie finden dann schon einen Grund, um mich loszuwerden", erzählt sie am gedeckten Kaffeetisch ihrer Plattenbauwohnung.
"Diese Gesellschaft ist sehr aggressiv", erzählt Jelena Zärtlich, "es ist eine Aggression, die sich gegen alles richtet, was anders ist. Juden, Schwule, Ausländer. Es reicht schon, wenn jemandem deine Nase nicht gefällt. Zu Sowjetzeiten gab es keinen Namen für Schwule und Lesben. Es gab jedoch Treffpunkte, in Parks, am Puschkin-Denkmal, vor dem Bolschoi-Theater, das schon. Dort", sagt sie, "habe ich mich allerdings nie hingetraut. Und mein Eindruck ist, dass es den meisten Schwulen und Lesben in Russland auch so geht."
Man lebt weiter in der totalitären sowjetischen Tradition der Schizophrenie, wie man sie auch aus der DDR-Geschichte kennt: Es gibt ein offizielles Ich und ein heimliches, privates. Jelena Zärtlich hat gelernt, dass es auch anders geht, unter anderem von deutschen Feministinnen, wohin sie eingeladen worden ist.
Beim Moskauer Gay Pride 2007 mit seinen gewalttätigen Übergriffen war sie dabei. Was ist in diesem Jahr? "Die Polizei signalisiert längst Kooperation, das Problem ist unser Bürgermeister. Er ist verrückt", erklärt sie in ihrem schönen altmodischen Deutsch.
Mag sein. Legendär sind Luschkows peinlich anmutenden Begegnungen mit den Bürgermeistern von London, Paris und Berlin, zwei von ihnen schwul. Klaus Wowereit und Bertrand Delanoe nahmen seine homophoben Entgleisungen - "unnatürlich", "krank", "homosexuelle Propaganda" - bislang diplomatisch und mit Humor.
Kontrolle vorm Darkroom
Die traditionellen Treffpunkte der Schwulen existieren noch immer. Anton, 25, gehört jener Generation an, die wie selbstverständlich auf das Internet und die neue Infrastruktur der Clubs und Bars zurückgreift. Er sitzt bei einem Cesars Salad im "Propaganda", der ältesten schwulen Lokalität Moskaus, einem Mix aus Restaurant, Bar und Club. Jeden Sonntag steigt hier die angesagteste Homoparty der Stadt. Anton ist DJ und stolz, dass er im "Propaganda" auflegen kann. Die Face Control am Eingang müssen weder er noch sein Freund Pasha, 24, fürchten. Aber an einem Gay Pride oder Demonstrationen anlässlich des Song Contests werden sie keinesfalls teilnehmen. "Die Zeiten sind schlecht dafür", sagt Anton. Mit dieser Ansicht steht er nicht alleine. Die Mehrheit der Schwulen und Lesben möchte lieber in Deckung bleiben, sie haben Angst. Angst vor Gewalt, und Angst, ihre Jobs zu verlieren.
Eine Haltung, die den Aktivisten von Gayrussia.ru das Leben nicht gerade erleichtert. Nikolai Baew, 33, von Beruf Dolmetscher, ist pünktlich am verabredeten Treffpunkt "in der Mitte der Metrostation". Er und seine Mitstreiter kämpfen für Sichtbarkeit, sie wollen nicht im Getto bleiben: "Uns geht es darum, dass die russischen Gesetze umgesetzt werden. Wir haben ja offiziell alle Rechte, von der Versammlungsfreiheit über die freie Meinungsäußerung bis hin zur sexuellen Selbstbestimmg. Das Problem ist, dass sie unter der Hand kassiert werden. Man meldet eine Versammlung an, und dann gibt es eben keinen Raum. Das zu ändern geht nur über den Weg der Öffentlichkeit."
Ihm ist der Eurovision Song Contest Mittel zum Zweck: "Wir werden auf jeden Fall demonstrieren, auch wenn wir nur ein paar wenige sind. Es wird Berichte darüber geben, weltweit. Und unsere Mächtigen haben längst begriffen, dass es ein Homo-Problem gibt. Jetzt kommt es darauf an: Lenken sie in letzter Minute doch noch ein oder nicht? Der Song Contest ist von Putin organisiert, da soll alles perfekt sein."
Nikolai Baew geht davon aus, dass die meisten Russen gar nicht wissen, dass der Song Contest eine fast auschließliche Homo-Veranstaltung ist. Ein schwullesbisches UFO ist im Anflug auf Moskau und unterläuft die russische Raketenabwehr, bewacht von Nationalisten und orthodoxen Christen, die in Russland eine unheilige Allianz eingegangen sind. "Diese Leute sind wirklich eine Gefahr für uns", sagt Baew, "die überziehen das Volk, das eigentlich gar nicht so aggressiv gegen uns ist, mit ihrer homophoben Propaganda." Homosexualität als Gefahr für den Bestand der Nation - man kennt dieses Argument.
Im "Body and Soul", einem Club, der auch in Berlin oder London stehen könnte, möchte man nicht glauben, dass es in Moskau ein Problem mit schwuler Kultur gibt. Industrial-Look, weißer Club-Chic, Go-Go-Dancer im Matrosen-Outfit, Wodka-Redbull, stampfende Beats und so weiter. Allerdings muss man am Eingang die Kamera abgeben, und der Versuch, mit dem Handy zu fotografieren, führt fast zur Deportation: "Noch ein Foto, und du fährst nach Hause!", droht der Security-Hüne. Öffentlichkeit ist unerwünscht, um Ärger mit den Behörden zu vermeiden.
Security gibt es sogar vor dem Eingang zum Darkroom, in Russland liebt man Ausweiskontrollen und derlei. Nur die verwirrte Klofrau, ein ältliches Mütterchen, erinnert daran, dass draußen eine andere Welt ist: Sie kann nicht verstehen, dass die Kabinen ständig blockiert sind, und dann auch noch von mehreren Leuten. Womöglich wird sie sich den Eurovision Song Contest im Fernsehen anschauen - ohne eine Ahnung davon zu haben, wer dort am Werk ist.
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