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Russische Nudeln für Tschetschenien

■ 200 Panzer rücken auf Grosny vor / Mindestens fünf Tote bei Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Demonstranten in Inguschetien / Regierung spricht von humanitärer Hilfe

Grosny (taz) – Auf dem Territorium der Russischen Föderation herrscht Krieg. Gestern morgen, fünf Uhr MEZ, drangen russische Einheiten auf das Gebiet der abtrünnigen Kaukasusrepublik Tschetschenien vor. Seit mehreren Tagen waren Militärverbände in den kaukasischen Wehrkreis verlegt worden. Am Sonnabend wurden bereits die Grenzen nach Tschetschenien geschlossen. Die russischen Soldaten sollen aus Dagestan, Inguschetien und aus dem Norden Ossetiens mit rund 200 Panzern auf die Hauptstadt Grosny vorstoßen. Doch während die Kritiker Jelzins vor einem zweiten Afghanistan warnen, ist für den russischen Regierungssprecher der Einmarsch vor allem eine humanitäre Hilfsaktion: Die Truppen führten Tausende von Tonnen Zucker, Wurst und Nudeln mit sich.

An dem Vormarsch auf Grosny sollen auch rund 2.000 Soldaten der tschetschenischen Opposition beteiligt sein. Nach Angaben aus Grosny kam es zwanzig Kilometer vor der Hauptstadt zu ersten Kampfhandlungen. Doch bereits bei einer Auseinandersetzung zwischen den Soldaten und Demonstranten in der inguschischen Hauptstadt Nasran wurden mindestens fünf Menschen getötet. Am Freitag hatte Präsident Boris Jelzin seine Regierung aufgefordert, in der Kaukasusrepublik, die sich seit bereits drei Jahren auf Unabhängigkeitskurs befindet, „mit allen dem Staat zur Verfügung stehenden Mitteln“ die Konfliktparteien zu entwaffnen und die „konstitutionelle Ordnung wiederherzustellen“.

Moskau hat überstürzt gehandelt. Ein Ultimatum an die innenpolitischen Gegner, die Waffen abzugeben, läuft erst am 15.Dezember aus. Für heute waren Verhandlungen zwischen dem tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew und Moskau vorgesehen. Bei Gesprächen mit Dudajew Anfang letzter Woche hatte Rußlands Verteidigungsminister Pawel Gratschow noch eine Möglichkeit gesehen, den Konflikt friedlich beizulegen. Seine Aufgabe war es, russische Soldaten, die in Grosny gefangengenommen worden waren, nach Rußland zurückzubringen. Nach längerem Zögern lieferte Dudajew die Gefangenen aus. In der Nacht zum Sonntag äußerte sich der tschetschenische Präsident noch zuversichtlich: „Der Konflikt zwischen Rußland und Tschetschenien ist einfach zu lösen. Wir müssen uns nur an den Verhandlungstisch setzen.“

Offenkundig haben die führenden Kreise in Rußland kein Interesse an einem unblutigen Ende des Streites. Doch welchen Kräften in und um den Kreml bringt der Waffengang Vorteile? Verschiedene Fraktionen der Staatsduma sprachen sich offen gegen eine militärische Intervention aus. Jegor Gaidar, der Vorsitzende der „Demokratischen Wahl Rußlands“, warnte, die demokratischen Reformen könnten durch einen Krieg in Gefahr geraten. Informationssperre und Ausnahmezustand landesweit seien zu erwarten.

Indessen unterzog sich Präsident Jelzin nach der Interventionsentscheidung im Sicherheitsrat am Freitag einer Nasenoperation. Für eine Woche wird er das Krankenbett hüten müssen. In der Öffentlichkeit ruft sein Verhalten Erstaunen hervor. Rußland führt im eigenen Land einen Feldzug, während der Oberbefehlshaber der Streitkräfte sich operativ den Nasengang freilegen läßt. Ein enger Berater Präsident Dudajews malte nach Bekanntwerden der Invasion ein bedrückendes, aber realistisches Bild über den Fortgang der Kämpfe: „Ich sage Ihnen heute, eine Menge Särge werden nach Rußland zurückkehren. Ich beispielsweise habe geschworen, nicht weniger als drei bis fünf Menschen zu töten“, meinte Movlen Salomo. Ein Vertrauter Präsident Jelzins distanzierte sich indirekt von der Entscheidung: „Die Armee kann die Bevölkerung nicht besiegen.“ In Tschetschenien steht ein erbarmungsloser Partisanenkrieg bevor. Klaus-Helge Donath Seite 3

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