Rüge für Bosnien und Herzegowina: Minderheiten werden diskriminiert
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt, dass nur Bosniaken, Serben und Kroaten kandidieren dürfen. Verfassungsrevision ist unumgänglich.
SARAJEVO taz | Als die Nachricht aus Straßburg Sarajevo erreichte, freute sich der Chef der Helsinki-Föderation für Menschenrechte, Sran Dizdarevi. "Fast 14 Jahre hat es gedauert, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte endlich entschieden hat." Mit dem Urteil wird eine Verfassungsrevision unumgänglich - ein politisch delikater Vorgang, wehren sich doch vor allem serbische Nationalisten vehement dagegen, die im Friedensvertrag von Dayton ausgehandelte Verfassung zu ändern.
Bosnien und Herzegowina wird in dem Urteil die Diskriminierung von Minderheiten vorgeworfen, weil deren Angehörige sich bei den Wahlen nicht aufstellen lassen dürfen. Diese Bestimmung der Verfassung verstoße gegen das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, entschied das Gericht am Dienstag. Zudem habe Bosnien und Herzegowina gegen das Recht auf freie Wahlen verstoßen.
Das Verfahren angestrengt hatte 1996 zuerst der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Sarajevo, Jakob Finci. Der Klage hatte sich später dann auch Dervo Sejdic als Vertreter der Roma angeschlossen. In der Verfassung Bosnien und Herzegowinas wird unterschieden zwischen den "Staatsbürgern aus konstitutiven Nationen" und den Minderheiten. Als "konstitutive Nationen" gelten die Bosniaken, also die bosnischen Muslime, die Kroaten und Serben. Nur Bürger aus den "konstitutiven Nationen" dürfen sich nach der bisherigen Rechtslage zur Wahl für die zweite Kammer des Parlaments, die Kammer der Völker, und für die Wahlen zum Amt des Staatspräsidenten aufstellen lassen.
Der jetzt als Botschafter seines Landes in Genf tätige Jakob Finci galt lange Jahre als Favorit bei Präsidentschaftswahlen, hätte er antreten dürfen. Viele nichtnationalistische Parteien und Persönlichkeiten hätten Finci unterstützt, weil er neben seiner untadeligen demokratischen Gesinnung gerade nicht aus einer der drei "konstitutiven Nationen" stammt.
Dass die bosnische Verfassung nicht mit europäischen Rechtsvorschriften kompatibel ist, war bei Juristen schon lange unumstritten. Es stellt sich allerdings die Frage, warum der Gerichtshof in Straßburg sich so lange Zeit gelassen hat, um ein Urteil zu fällen. Freunde Fincis in Sarajevo vermuten, dass dahinter ein politisches Kalkül steckt. Denn mit diesem Urteil wird die gesamte Verfassung von Dayton, die das Land auf ethnischer Grundlage in zwei Teile zerrissen hat, in Frage gestellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Doku über deutsche Entertainer-Ikone
Das deutsche Trauma weggelacht
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Nach dem Sturz von Assad in Syrien
Türkei verkündet Erfolg gegen syrische Kurden
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Proteste gegen LNG-Gipfel in Berlin
Partycrasher am Luxushotel