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Rückflug exklusive

Wenn der Geschäftsmann Yang Yongjun eines seiner ambitionierten Rock- und Kunstprojekte startet, muss man auf Überraschungen gefasst sein. Wie erst neulich in Kunming …

von YAN JUN

Was würdest du denken, wenn du aufwachst und feststellst, dass du dich in einem fernen Land namens China befindest, an einem Ort, der fünfhundert Kilometer von Peking entfernt ist, umgeben von mehr als hundert Rockmusikern, die geschmückt sind mit Lippenringen, Ohrringen und Tätowierungen, mit bizarren Frisuren – vor dir eine Parkanlage, in der irgendwelche Akrobatik- und Pekingopershows zelebriert werden, und hinter dir Installationskunstgegenstände aus Europa. Was würdest du denken? Wirst du Ruhe bewahren können, wenn du dann auch noch feststellst, dass du zwar in einem Viersternehotel schläfst, aber kein Geld für den Rückflug hast?

Kunming, gelegen im Südwesten Chinas, im Volksmund „Stadt des Frühlings“ genannt, Hauptstadt der durch Tabakindustrie und Tourismus bekannten Provinz Yunnan, hat um die Jahreswende ein Kunstfestival erlebt namens „Chinesische Kunst in Aktion“. Das Festival bestand aus dem „Festival des unabhängigen Films“ mit hochrangigen Filmschaffenden, dem „Kunming Festival der modernen Musik“ mit über zwanzig Undergroundbands aus acht Städten Chinas, der Kunstausstellung „4 + 4“, an der chinesische, englische, niederländische und deutsche Künstler teilnahmen, und nicht zuletzt dem „Daguanyuan Kulturfestival“ mit über zweitausend beteiligten Künstlern. Ein Großevent – doch am Ende geriet dieses überdimensionales Festival zu einer peinlichen Farce.

Yang Yongjun, Generaldirektor der Kunminger Werbefirma „Infiltration“ und gleichzeitig Kurator und Produzent des Kunminger Festivals, ist ein leidenschaftlicher Liebhaber der Rockmusik. Er trägt gern ein altmodisches Sakko, hat lange Haare, wirkt immer etwas müde und ist ständig am Telefonieren. Er hat bereits mehrere Pop-, Rock- und Rave-Festivals organisiert – und alle erwiesen sie sich als Flop. Doch was schert ihn das? Yang Yongjun hält fest an seiner Vision. Im März 2001 machte er sich an das Konzept eines „perfekten“ Musikfestivals. Er berief den Herausgeber einer Rockmusikzeitschrift zum Festivalleiter und beauftragte ihn damit, sich mit den Bands in Verbindung zu setzen. Nach einem halben Jahr stand die Planung für das Festival. Bands aus ganz China wurden angeschrieben; mit einigen schloss man sogar Verträge ab. Im Dezember 2001 wurde das Programm auf Vorschlag einiger Förderer des unabhängigen Films kurzfristig um die „Werkschau des unabhängigen Films“ erweitert. Ein wenig später, genauer: im letzten Moment, erging von der Regierung die Genehmigung zur Durchführung des Festivals.

Die eingeladenen Rockbands erklärten sich bereit, ohne Gage aufzutreten – unter der Voraussetzung, dass die Kosten für Reise, Essen und Logis übernommen würden. Dazu muss man wissen, dass Rockmusik in China noch keine große Popularität genießt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen spielen die meisten Bands im Untergrund. Ihre Musik ist geprägt von Unschuld und Protest, von Elan und Experimentierfreude. Die meisten von ihnen leben weit unter dem durchschnitlichen Lebensstandard. Während ein Akademiker in Peking zwei- bis viertausend Yuan im Monat verdient, muss ein Rockmusiker sich mit ein paar hundert zufrieden geben – und das, obwohl es Zeiten gibt, in denen er gar keine Einnahmen hat und notgedrungen von der Unterstützung seiner Familienangehörigen und Freunde lebt.

Die Bands spielen in Bars, fahren mit dem Fernbus oder der Bahn zu ihren Engagements. Die Veranstalter aus Kunming wollten eine Ausnahme machen und kauften für die Bands Flugtickets, brachten sie sogar in Drei- und Viersternehotels unter. Es war ja schließlich Sauregurkenzeit in der Tourismusbranche, und die Tickets waren billig.

Die Konzerte sollten laut Programm vom 29. Dezember 2001 bis zum 4. Januar 2002 jeden Abend auf dem Platz vor dem Kunminger World Trade Center stattfinden. Die eingeladenen ausländischen Bands wie Pavement oder Faith & Disease allerdings tauchten nicht auf. Wahrscheinlich hatten sie die für den Auftritt in China nötige Erlaubnis des chinesischen Kulturministeriums nicht bekommen und nicht riskieren wollen, wegen eines illegalen Auftritts verhaftet zu werden.

Dafür kamen die besten Undergoundmusiker Chinas wie Wang Fan, ein Wegbereiter der modernen chinesischen experimentellen Musik, die führende Undergroundband Zunge, der wichtigste Elektromusiker, Feng Jiangzhou, oder die avantgardistische und politisch engagierte Punkband „Punkgod“. Aufgrund dilettantischer Organisation und lausiger Pressearbeit kamen jedoch nur zwei- bis dreihundert Besucher pro Tag. Und zu allem Überdruss wurde ein ebenso desinteressierter wie ahnungsloser Elektriker als Tonmeister ans Mischpult gesetzt.

Im Büro der Festivalleitung ging alles drunter und drüber: Die Programmplanung wurde jeden Tag aufs Neue über den Haufen geworfen, und oft fanden die in sieben verschiedenen Hotels untergebrachten Musiker nicht einmal eine Kontaktperson vom Festival. Einige Musiker dachten darüber nach, die Veranstalter zu verklagen. Doch da die wenigsten von ihnen überhaupt eine behördliche Auftrittsgenehmigung besaßen, blieb ihnen gar nichts anders übrig, als zu hoffen, dass das Schicksal den gutmütigen, aber untalentierten Gastgeber nicht zu sehr bestrafen würde.

Die „Werkschau des unabhängigen Films“ indes entwickelte sich zu einem richtigen Erfolg. Lag es daran, dass sich Yang Yongjun um diesen Teil des Festivals nicht gekümmert hatte? Bis kurz vor Beginn der Vorführungen wusste man nicht einmal, wo das dazu benötigte Betagerät aufzutreiben sei. Unbeirrt von dieser Fehlplanung organisierte der Filmkritiker Zhang Yaxu Filmvorführungen und Diskussionen an drei verschiedenen Orten, unter anderem im „Up-river Art Workshop“, einer Mischung aus Atelier und Bar, die von dem bekannten Maler Ye Yongqing betrieben wird. Unter den angereisten Gästen fanden sich Jia Zhangke, der Star unter Chinas Jungregisseuren, und das Idol des unabhängigen chinesischen Films, Wu Wenguang.

In einem Pavillon in Daguanyuan, der schönsten Parkanlage Kunmings, fand auf mäßigem Niveau die Ausstellung „4 + 4“ statt. Die vier ausgestellten ortsansässigen Künstler waren entweder zu sehr beeinflusst von modischen Symbolen und den Manierismen der chinesischen Avantgarde oder sie waren noch auf der Suche nach ihrer eigenen Sprache. Die nachlässigen Arbeiten der englischen Künstlerin Helen Goodwin verrieten ihre Schöpferin eher, als dass sie ihr Ruhm brachten. Die Niederländerin Elisabeth Bezemer zeigte eine Serie kleinformatiger Ölbilder, die den menschlichen Körper in einer grob provokativen und direkten Weise darstellten und einen reizenden Eindruck hinterließen. Der Deutsche Joerg Schlinke bevorzugte die ernste Ratio und betonte in seinen Grafiken die harten und kalten Verhältnisse. Die ausgestellten Werke waren wenig an der Zahl, vor allem aber fehlte eine Einführung, die für das Publikum zum Austausch und zur Anregung nötig gewesen wäre.

Es lag auf der Hand, dass „Chinesische Kunst in Aktion“ Pleite machen musste. Die Krönung gab es am letzten Tag, als Yongjuns Werbefirma „Infiltration“ sieben der eingeladenen Bands die Zahlung der Rückflüge verweigerte. Nach erfolglosen Verhandlungen schoben schließlich zwei Barbesitzer unserem guten Yang Yonjun 21.000 Yuan über den Tisch und verhinderten so das Schlimmste. Es ist schon ein Jammer, dass bisher kein Rockfestival in China erfolgreich war: Entweder verhängt der Staat strenge Einschränkungen, oder es fehlt an Sponsorengeldern. Die Versuche von ein paar Amateurveranstaltern sind mangels Erfahrung bislang stets fehlgeschlagen.

Übrigens: Zeitgleich mit der „Chinesischen Kunst in Aktion“ lief in Kunmings Parkanlage auch das „Daguanyuan Kulturfestival“ mit einem folkloristischen Programm von Akrobatik über Tanz und Gesänge der Minoritäten bis hin zu Kinderballett, Sinfoniekonzerten und Pekingoper. Dutzende Kulturensembles mit über zweitausend Darstellern zogen täglich über zehntausend Zuschauer an …

Was aus Yang Yongjuns geladenen Gästen wurde? Die verließen nacheinander Kunming. Und im Kopf des chinesischen Don Quichotte wuchs bereits die Idee für das nächste Festival.

Aus dem Chinesischen von Fang YuHerr YAN JUN, geboren 1973 in Lanzhou, China, arbeitete nach dem Sinologiestudium als Redakteur bei der Lanzhouer Abendzeitung und als Radiomoderator. Zurzeit lebt er als freier Autor, Inhaber eines Musikladens und Kurator diverser Rockkonzerte in Peking

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