Rot-Grüner Koalitionsvertrag in NRW steht: Kinder, Kommunen, Kohlendioxid
SPD und Grüne vereinbaren einen Vertrag mit erstaunlichem Inhalt: Der Klimakiller Kohlendioxid etwa soll weniger stark reduziert werden, als es selbst Schwarz-Gelb im Bund plant.
DÜSSELDORF taz | Die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW steht. Bestens gelaunt präsentierten SPD-Landeschefin Hannelore Kraft und die grüne Landtagsfraktionsvorsitzende Sylvia Löhrmann am Dienstagnachmittag in Düsseldorf ihr gemeinsames Regierungsprogramm. Seine Überschrift: "Gemeinsam neue Wege gehen". Beide betonten geradezu euphorisch das hervorragende Klima zwischen SPD und Grünen. Von einer "wirklich sehr guten Atmosphäre" sprach die designierte Ministerpräsidentin Kraft, von einer "neuen Qualität des Miteinanders" schwärmte ihre künftige Stellvertreterin Löhrmann.
Nichts soll mehr an die alte rot-grüne Streitkoalition erinnern, die vor fünf Jahren abgewählt worden war. In einer letzten mehrstündigen Verhandlungsrunde war es zuvor vor allem um den Zuschnitt des künftigen Kabinetts gegangen, in dem die Grünen drei von elf Ministerien erhalten werden: Schule, Umwelt und Gesundheit. Über die künftige Ministerriege wird sich allerdings noch ausgeschwiegen. "Es bleibt bei der alten Regel: Erst die Wahl, dann das Personal", reimte Kraft.
Ihre Minderheitsregierung solle kein Interregnum sein, versprechen SPD und Grüne. "Wir wollen keine Übergangslösung, die unweigerlich zu schnellen Neuwahlen führt", heißt es im Koalitionsvertrag, der offiziell erst am Mittwochabend veröffentlicht werden soll. "Dann können Sie während des Fußballspiels schon mal mit der Lektüre beginnen", scherzte Kraft.
Das 88-seitige Papier liest sich in weiten Teilen, als gehe es um die Rückabwicklung von fünf Jahren Schwarz-Gelb. So soll den Kommunen und ihren Stadtwerken wieder mehr wirtschaftliche Betätigung erlaubt und Beschränkungen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst zurückgenommen werden. Auch will Rot-Grün den Vorrang für "erneuerbare und einheimische Energien" wieder per Gesetz vorschreiben. Den Klimaschutzparagrafen im Landesentwicklungsgesetz strich die schwarz-gelbe Landesregierung, nachdem ein Gericht den Bau eines Eon-Kohlekraftwerks in Datteln gestoppt hatte.
Die Gesetzesänderung zugunsten von Europas größtem Kohlekraftwerk ging als "Lex Eon" in die Landesgeschichte ein. Die will Rot-Grün jetzt nicht nur rückgängig machen, sondern auch ein Klimaschutzgesetz für NRW verabschieden. Als Ziel soll darin eine CO2-Reduktion um 25 Prozent bis 2020 im Vergleich zum Stand von 1990 festgeschrieben werden. Damit würde NRW zwar über das EU-Klimaziel von 20 Prozent hinausgehen, jedoch bliebe das Land deutlich hinter der von der Bundesregierung angepeilten Verminderung um 40 Prozent. Begründet wird das damit, dass anders als im Bundesdurchschnitt NRW seine Emissionen bislang praktisch nicht reduziert habe.
Der Bau von Kohlekraftwerken soll nicht gänzlich gestoppt werden. Schließlich könnte keiner daran gehindert werden, einen Antrag zu stellen. Allerdings dürften neue fossile Kraftwerke und der Ersatz von Altanlagen nicht im Widerspruch zu den Klimaschutzzielen stehen. Ausgebaut werden sollen die erneuerbaren Energien. So soll sowohl der Anteil der Windenergie als auch der der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromversorgung deutlich gesteigert werden. Weiter kündigten Sozialdemokraten und Grüne an, im Bundesrat gegen AKW-Laufzeitverlängerungen zu kämpfen. Auch lehnen sie die weitere Einlagerung von Atommüll im Zwischenlager Ahaus ab.
Die Bildungspolitik war ein zentrales Wahlkampfthema - und sie soll auch ein Schwerpunkt der neuen Regierungsarbeit sein. Zum Wintersemester 2011/12, so verspricht Kraft, sollen die von CDU und FDP eingeführten Studiengebühren in Höhe von bis zu 500 Euro "mit einem Schlag auf null gesetzt" werden. Früher sei dies nicht machbar, da für die Hochschulen ein Ausgleich aus Landesmitteln, rund 280 Millionen Euro, sichergestellt werden müsse. Wie auch die Beitragsfreistellung des letzten Kindergartenjahres soll die Abschaffung der Studiengebühren über Schulden finanziert werden.
Keine größeren Kosten verursacht hingegen die Tilgung der Kopfnoten von den Zeugnissen. Vorgesehen ist ebenso die Wiedereinführung der Grundschulbezirke, die Eltern verpflichten, ihr Kind wohnortnah einzuschulen. Ob sie das unter Schwarz-Gelb eingeführte umstrittene "Turbo-Abi" nach acht Gymnalsialjahren oder das herkömmliche Abitur nach neun anbieten wollen, sollen Schulen selbst entscheiden können. Möglich soll auch sein, dass ein Gymnasium beide Varianten anbietet.
Die vollmundig versprochene große Schulreform hingegen fällt ansonsten aus. Die designierte Schulministerin Sylvia Löhrmann will sich die Lust am Regieren offenkundig nicht durch Proteste konservativer Elternverbände und der schwarz-gelben Opposition, die im Wahlkampf das Gespenst von der "Einheitsschule" gemalt hatte, vermiesen lassen. Zwar heißt es im Koalitionsvertrag: "Längeres gemeinsames Lernen macht unser Bildungssystem gerechter und leistungsstärker." Aber das dreigliedrige Schulsystem soll auch unter Rot-Grün nicht abgeschafft, sondern nur noch weiter ergänzt werden. Neben die als Alternative ohnehin bereits bestehenden Gesamtschulen könnten demnächst noch "Gemeinschaftsschulen" treten. Die Entscheidung über deren Errichtung und auch, ob sie an die Stelle bestehender Schulen treten oder zu diesen bloß addiert werden sollen, wollen SPD und Grüne jedoch den Städten überlassen. Damit verlagern sie den "Schulkampf" auf die Vor-Ort-Ebene. De facto dürfte das vor allem auf eine Bestandsgarantie für Gymnasien hinauslaufen.
Als Ziel benennt der Koalitionsvertrag, "in den nächsten fünf Jahren mindestens 30 Prozent der allgemeinbildenden Schulen in der Sekundarstufe I zu Gemeinschaftsschulen umzuwandeln". In ihnen soll künftig der Unterricht in den Klassen fünf und sechs für alle gemeinsam stattfinden. Wie es anschließend von Klasse sieben an weitergeht, können nach den Vorstellungen von Rot-Grün Schule, Schulträger und Eltern entscheiden: "Entweder es werden integrierte Lernkonzepte weitergeführt, oder es wird nach Bildungsgängen differenziert."
Dem Vertrag müssen am Samstag die Landesparteitage von Sozialdemokraten und Grünen zustimmen. Am kommenden Mittwoch soll Hannelore Kraft im Landtag dann zur Ministerpräsidentin gewählt werden. Nach bisherigem Stand wird Kraft keinen Gegenkandidaten haben. Deshalb würde ihr schon im zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit reichen. SPD und Grünen verfügen gemeinsam über 90 Mandate. CDU und FDP kommen zusammen auf 80, die Linkspartei stellt 11 Abgeordnete.
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