Rot-Grün: Die Kollwitzplatz-Koalition
Welche Botschaft für Berlin würde von einem Bündnis von SPD und Grünen ausgehen? Wer wären die Gewinner, wer die Verlierer? Die Experten sind sich uneins.
Selten bekam die Präambel eines Koalitionsvertrags soviel Aufmerksamkeit wie 2002. "SPD und PDS bekennen sich im Wissen um das Trennende aus der Geschichte dazu, dass die Vergangenheit nicht auf Dauer die Zukunft beherrschen darf", hieß es im Januar 2002, als die rot-rote Koalition in Berlin besiegelt wurde. Sie sollte ein "Projekt der Versöhnung" des Westteils der Stadt mit den Ostbezirken sein. Welche Botschaft aber ginge heute von einem rot-grünen Senat aus? Was würde in einer Präambel stehen, die Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und sein grüner Stellvertreter Volker Ratzmann unterzeichneten?
"Ein großes Projekt würde Rot-Grün nicht sein", sagt Paul Nolte, Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität. Viel eher wäre das Bündnis zwischen SPD und Grünen eine "paradoxe Koalition": "Die SPD müsste einerseits konservativer werden und auf Wirtschaftsthemen setzen, auf der anderen Seite aber auch das Thema soziale Gerechtigkeit besetzen." Für die Sozialdemokraten, meint Nolte, wäre das ein Spagat. Aber auch die Grünen hätten ein Problem. "Da wird sich ebenfalls zeigen müssen, für wen sie stehen."
Kein Projekt also, oder doch? Michael Müller, der SPD-Landes- und Fraktionschef, will in seiner Partei eine "große Sehnsucht" nach Rot-Grün ausgemacht haben. Ein anderer führender Sozialdemokrat beschreibt es so: "Rot-Grün würde das Thema soziale Gerechtigkeit mit dem kreativen Milieu der Stadt versöhnen." Das klingt ein bisschen so, als bekäme "arm, aber sexy" dann endlich die Regierung, die es verdient.
Der Politikwissenschaftler und Parteienforscher Gero Neugebauer ist da skeptisch. "Wer sagt denn, dass die Grünen das kreative Potential vertreten? Das geht doch lieber die Piraten wählen." Für Neugebauer sind die Grünen eher am Kollwitzplatz zu Hause. "Die Grünenwähler gehören zum etablierten Bürgertum." Viel spannender sei die Frage, wer die Linke und das Thema soziale Gerechtigkeit beerben wird - schließlich gebe es "neben den reichen immer mehr ausufernde arme Imseln".
Die Grünen fallen da laut Neugebauer aus. "Die Basis mag das auf dem Schirm haben, das Führungspersonal nicht." Aber auch die SPD tue sich schwer mit dem Thema. "Das Schweigen der Sozialdemokraten zur sozialen Frage ist offensichtlich." Rot-Grün wäre für Neugebauer also weniger eine Botschaft der Versöhnung als eine Koalition, die Lücken reißt.
Nicht nur die Grünen, auch die SPD ist inzwischen am Kollwitzplatz zuhause. Das zumindest insinuiert Klaus Wowereit, wenn er davon spricht, dass steigende Mieten auch ein Hinweis auf den wirtschaftlichen Erfolg der Stadt seien. Und war der Markt am Kollwitzplatz nicht ein Ort, an dem sich die Bundesspitzen der Grünen und Sozialdemokraten nach Rot-Grün im Bund 1998 beim samstäglichen Schaulaufen gerne gezeigt haben? Wäre Rot-Grün auf Landesebene also die Neuauflage der Kollwitzmarkt-Koalition?
Ganz so einfach ist es nicht, meint Andrej Holm und verweist auf das veränderte Wahlverhalten. Als SPD und PDS 2002 ihre Koalition beschlossen, habe man Berlin immer noch als geteilte Stadt begreifen können. Die CDU, mit der die SPD bis dahin regiert hatte, war eine reine Westpartei. Die PDS dagegen hatte ihre Hochburgen im Osten, da war sie ganz Volkspartei. "Mit der PDS und später der Linken als Senatspartei hatten die Ostbezirke eine politische Repräsentanz in der Gesamtstadt", sagt der Stadtsoziologe von der Humboldt-Universität. Aber ist das heute, zehn Jahre später, noch nötig?
"Berlin ist inzwischen nicht mehr zweigeteilt, sondern insgesamt fragmentierter geworden", hat Holm beobachtet. "Das bedeutet aber auch, dass es kein Projekt der Versöhnung mehr gibt, das den Großteil der Wählerinnen und Wähler mitnimmt."
Bürgertum contra Hartzler
Umgekehrt heißt das allerdings, dass jede Koalition auch Gewinner und Verlierer hervorbringt. "Bei Rot-Grün würde", so Holm, "nicht nur die junge, gesundheitsbewusste Mittelschicht aus Prenzlauer Berg profitieren, sondern auch das alteingesessene Bürgertum in Charlottenburg." Verlierer hingegen wären die Bewohner der Ostberliner Großssiedlungen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. "Die werden sich von Grünen und SPD nicht repräsentiert fühlen."
Und die Piraten? Für Holm sind sie gar nicht so sehr die Partei der Nerds, sondern eine klassische Protestpartei, die die Stimmen derer bekommt, die sich ausgeschlossen fühlen. Ähnlich sieht das Parteienforscher Neugebauer. "Die Piraten haben laut neuester Umfrage 12 Prozent im Osten und 9 im Westen. Das sagt etwas aus."
Auf die Präambel der neuen Koalition darf man also gespannt sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs