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Rot-Grün: Seifenblase - oder der Atem der Geschichte?

■ Eine Kritik von Thomas Schmid, ökolibertärer Vordenker der Grünen, zum neuen Regierungsprogramm / Vorgetragen bei der Veranstaltung gleichen Titels der „Neuen Republikanischen Gesellschaft“ am Montag abend in der Hochschule der Künste

„Rot-Grün: Seifenblase - oder der Atem der Geschichte?“ Da die Seifenblase offensichtlich kaum ernst gemeint ist, will ich nur auf den pompösen zweiten Teil der Alternative eingehen. Man sollte das Ganze entschieden entdramatisieren. Von „Jahrhundertchance“ zu reden, wie Christian Ströbele es tut, sollte man lieber bleibenlassen - aus vielen Gründen, u.a. dem: Es ist wenig hilfreich, auf die Dramatisierung von rechts mit einer Dramatisierung von links zu antworten. Wenn die CDU Regierungsmacht verliert, sieht sie stets die Gesellschaft am Rande des Untergangs. Wenn Rot-Grün drankommt, müssen die Alternativen nicht umgekehrt so tun, als beginne nun die Heilsgeschichte. Regierungswechsel sind demokratische Normalfälle.

Verblasen ist das Gerede von der Jahrhundertchance aber aus einem anderen Grund: Die frischgebackenen Koalitionäre wurden von ihrer Chance kalt erwischt; kein Futurologe hatte vor einem halben Jahr der AL den rasanten Lernprozeß prognostiziert, den sie nun gemacht hat und in dem sie in gradezu beängstigender Geschwindigkeit das ehedem granitene Gebirge ihrer radikalen Phraseologie beiseite geräumt hat. Und unvergessen ist der ob seines Sieges erschrockene Walter Momper der Wahlnacht. Nein, diese Parteien sind fürs Regieren kaum gerüstet. Sie übernehmen, darüber muß man sich im klaren sein, ein Amt, für das sie - zumindest noch - kein Mandat haben. Der Gaul wurde vom Schwanz her aufgezäumt, die gesellschaftliche Bewegung und die Diskurse, die in der Regel einem politischen Machtwechsel vorausgehen, müssen hier ex post in Gang gesetzt werden. Der Spitze des Eisbergs fehlt derzeit noch der Unterbau.

Natürlich, die Chance muß ergriffen werden (obgleich Rot -Grün die Schattenseite dieser Chance nicht aus den Augen verlieren darf: die Tatsache, daß sie nicht das Ergebnis eigener Stärke, sondern gewissermaßen Abfallprodukt des Aufstiegs der „Republikaner“ ist). Woran wird sich Rot-Grün messen lassen müssen? Daran, ob es gelingt, die starren Strukturen dieser ausgehaltenen Stadt in Bewegung zu bringen; ob es gelingt, die bösartige Defensive und Einigelung der Immer-noch-Frontstadt zu überwinden, die bleierne Macht des Klientelwesens zu erschüttern und die ökologische Wende nicht als technischen Bußgang, sondern als Abenteuerreise ins Reich der Komplexität in Angriff zu nehmen; und schließlich auch daran, ob es gelingt, auf die bisherige Politik des „Weiter so mit Glamour“ nicht mit einem bloßen „Arbeitsplätze plus Umwelt“, sondern mit einem Schub von politischer Kreativität zu antworten und die ganze Stadt in eine große Diskussion über ihre Zukunft zu verwickeln. Rot-Grün kann nicht als bloßer Reparatur- und Arbeitsplatzbeschaffungsbetrieb und auch nicht im Kostüm der Einheitsfront, Rot-Grün kann nur gewinnen, wenn es gelingt, wenigstens ein bißchen Phantasie in dieser Stadt in Umlauf zu bringen und den Glanz unkonventioneller Politiken ahnbar zu machen.

Ist dieser neue Geist in den Vereinbarungen, die SPD und AL getroffen haben, erkennbar? Um es vorweg zu sagen: An einigen wenigen Stellen macht er sich schön und schüchtern bemerkbar - sonst aber sind diese Texte von einer eigentümlichen Mattigkeit. Sie hangeln sich durch alle Felder der Politik, kündigen stets die umweltpolitische und soziale Wende an, bleiben aber ganz einem alten politischen Instrumentarium verpflichtet und privilegieren die technische Maßnahme und das Amtshandeln. Dem einen großen Übel der Berliner Politik, der Klientel-Wirtschaft, wird nicht der Kampf angesagt, sie wird vielmehr - unter Verschiebung der Zielgruppen - forsch beerbt. Es bleibt bei der Politik als Segens- und Heilsspenderin, es bleibt bei Bedienungsläden, Füllhorn, Gießkanne und beim unaufrichtigen Kneifen vor der Frage der Bezahlbarkeit. Als habe es die Kritik an der Bürokratie, an der Verwaltung als einem Feind des Menschen nie gegeben, wird hier vor allem und meist ganz unbekümmert auf das Verwaltungshandeln gesetzt. Hier scheinen sich zwei Vereine in der Mitte zu treffen, die ganz nach traditionellem politischem Muster gekuhhandelt haben: In ihrer Schnittmenge überwiegt das Alte, nicht das Neue, haben gewerkschaftlicher Garantismus und Staatsgläubigkeit stets Vorrang vor der Innovation. Die meisten der vereinbarten Maßnahmen sind für sich genommen durchaus vernünftig, aber im Gesamt lassen sie keine neue politische Methode erkennen, es bleibt bei Summierung von Einzelmaßnahmen.

Bevor ich mich mit den einzelnen politischen Bereichen befasse, will ich die Honneurs, den Verweis auf einige Glanzlichter der Vereinbarungen, nicht vergessen. Da heißt es z.B. überraschend pragmatisch, Verwaltungshandeln müsse „Kundendienst für die Bürger“ sein, und der jeweils kleineren Einheit müsse „obliegen, was nicht zwingend der größeren vorbehalten werden muß“. In zumindest für AL -Verhältnisse erstaunlicher Weise wird der Abbau von Feindbildern auf allen Seiten gefordert und erwogen, ob nicht ein Teil polizeilicher Aufgaben gewissermaßen in die Gesellschaft zurückverlagert werden könne. Da wird, die Justiz betreffend, dem Schlichten der Vorrang vor dem Richten gegeben und es heißt: „Der wirksamste Verfassungsschutz ist die informierte, kritische Öffentlichkeit.“ Da sollen kleinere und mittlere Betriebe besondere Förderung und Beratung erfahren, und es wird immerhin erklärt, Sozialpolitik solle „nicht auf jedes soziale Problem eine bürokratische Antwort geben, sondern die Menschen darin bestärken, sich an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse aktiv zu beteiligen und auf staatliche Entscheidungen verstärkt Einfluß zu nehmen“. Sogar das Wort „Gemeinwesen“ taucht auf, und in nicht erwarteter Großherzigkeit wird gefordert, eine Parlamentsreform solle u.a. die Stellung der „einzelnen (!) Abgeordneten und besonders der Opposition (!)“ stärken. Und bei allem Affekt gegen Medien, die nicht staatlicher Kontrolle unterliegen, wird immerhin freien Radios, die in ihrer Anlage dem Vereinsgedanken - also dem alten Gedanken des staatsfernen Zusammenschlusses - folgen, eine Chance eingeräumt. In all solchen Passagen schimmert eine Ahnung durch, daß eine neue Politik sich nicht durch ein Trommelfeuer von Maßnahmen und Verordnungen auszeichnen, daß sie sich vielmehr mit ganz anderen Tugenden schmücken sollte: mit der Kühnheit, die Gesellschaft auch loslassen zu können, mit der Entschlossenheit, gesellschaftliche Dynamik nicht stellvertretend zu simulieren, sondern freizusetzen.

Doch wie gesagt, das schimmert nur durch, und meist weht ein ganz anderer Wind, der Wind der verschärften staatlichen Gangart. Ich will das an einigen exemplarisch herausgenommenen Verhandlungsergebnissen erläutern und zugleich zeigen, welche realistischen Alternativen so konsequent außer acht gelassen wurden, daß man dahinter eine gewisse Systematik vermuten muß.

Wirtschaft, Arbeit, Sozialpolitik, Verwaltung

In der „Vereinbarung der Unterkommission Wirtschaft, Arbeit und Betriebe“ wird - angesichts des Problems der Arbeitslosigkeit - an vorderer Stelle die Einrichtung einer Sonderkommission „Arbeitsplätze für Berlin“ angekündigt, in der DGB, DAG, Arbeitgeber, IHK, Handwerkskammer etc. und auch VertreterInnen der Selbstverwaltungswirtschaft vertreten sein sollen: Ziel der SoKo soll es sein, „mehr Beschäftigung in unserer Stadt zu schaffen“. Da lassen nun alte Bekannte grüßen: Das ist die Wiederauflage der guten alten Schillerschen „Konzertierten Aktion“ - mit den bekannten Folgen: Interessenpolitik, korporativistische Politik, der Poker der Egoismen und Parteiinteressen, der ohne daß es jemand ausdrücklich will - die Spirale der Verschuldung in die Höhe treibt. Darüber müßte zumindest nachgedacht werden. Beiden Koalitionsparteien dürfte bekannt sein, daß Wirtschaft und Gesellschaft in einem konfliktuösen Verhältnis zueinander stehen; es hat keinen Sinn, diesen Gegensatz konzertiert zu überdecken, die Politik muß vielmehr den Mut aufbringen, die Wirtschaft mit Vorschlägen zu konfrontieren, die diese in Legitimationsschwierigkeiten gegenüber der Gesellschaft bringt. Zum Beispiel dadurch, daß man das Problem der Arbeitslosigkeit einmal anders als üblich angeht. Hier geht es in den Vereinbarungen zu, als hätten die gewerkschaftliche Rechte der SPD und die Hardliner der AL das Sagen gehabt. Zuerst die alte Verstaatlichungslinie: möglichst viele ABM-Stellen in städtische Planstellen, möglichst viele Arbeitslose bei der Stadt arbeiten lassen. Und dann das zweite Allheilmittel aus der Traditionskiste: die Arbeitszeitverkürzung. Statt einmal mehr die Illusion zu nähren, die Arbeitslosigkeit auf dem Wege der Arbeitszeitverkürzung und der Verstaatlichung der Arbeitslosen lösen zu können, wäre es an der Zeit, den Spieß einmal herumzudrehen: Bei Subventionen wird es so und so bleiben - warum daher in Zukunft nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeit subventionieren? Vorschläge dazu gibt es sehr wohl, etwa den Grottian-Plan, er sieht vor, daß insbesondere kleinere Betriebe Arbeitslose einstellen, die aber weiterhin einen Großteil ihrer Einkünfte aus der Arbeitslosenkasse beziehen. Damit würde die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit ein Stück weit in die Gesellschaft zurückverlagert, würden nicht die staatlichen, sondern die gesellschaftlichen Lösungskapazitäten gefördert werden. Das ist nur ein Vorschlag, viele andere ließen sich denken, und gerade auch die Idee eines Mindesteinkommens wäre zu diskutieren. All das wären politische Experimente, Patchwork, bewußtes Flickwerk, ein reformerisches Work in progress - u.a. mit dem Ziel, den öffentlichen Dienst nicht gegen unendlich auszuweiten, sondern umzustrukturieren. Hier aber wird ein strukturelles Problem der Vereinbarungen sichtbar: Der neue alte Gedanke der Selbsthilfe und der alte neue Gedanke des gewerkschaftlichen Garantismus, diese beiden liegen erst einmal im Streit miteinander - und in den Vereinbarungen wird so getan, als seien es allenfalls zwei Seiten der gleichen Medaille. Das ist gedanklich unsauber, unehrlich, wird auf Dauer finanziell sehr teuer zu stehen kommen, daher über kurz oder lang auffliegen, dem konservativen Gegenspieler die Argumente und Stimmen liefern -, und dann das Ganze wieder da capo. Es braucht endlich Ideen und Konzepte, mit denen der politischen Rechten das Monopol auf Entstaatlichung streitig gemacht wird, und zwar auf libertäre und sozial verträgliche Weise. Das, und nicht möglichst viele Planstellen im öffentlichen Dienst, steht auf der Tagesordnung. Fast nichts davon findet sich aber in den Vereinbarungen, kein Funken Lafontaine und ganz wenig von der Phantasie, die die AL so gerne für sich reklamiert, dafür viel Pagels und GEW. Wie sagte Walter Momper so schön: „Liebe Genossinnen und Genossen, das euch vorliegende Programm knüpft an den Reformschwung der frühen siebziger Jahre an.“ In der Tat, in der Tat! Und schließlich: In der Frage der Verwaltung schleicht man in den Vereinbarungen wie die Katze um den heißen Brei. Filz und das brutale Eigeninteresse der Bürokratie: das sind seit Jahrzehnten unausrottbare und regierungsunabhängige Grundübel. Die muß man angehen, eine Stadt, die Metropole sein will, darf nicht in den Händen von Bürokraten sein. Fürwahr, eine titanische Aufgabe. Es ist ein jedoch schlechter Start einer so vollmundig antretenden Regierung, wenn sie dieses Problem zumindest implizit für inexistent erklärt. Bis auf Widerruf gilt: die Bürokratie ist der Feind des Menschen, zumal in Berlin. Es ist töricht, sie zum Bündnispartner zu erklären.

Stadtentwicklung, Wohnungen, Umweltschutz, Hochschulen

Stadt und Umwelt: vom Gebäude-TÜV bis zum Bodenschutz, von der Umweltkarte bis zu den dezentralen Blockheizkraftwerken

-die Einzelmaßnahmen sind alle sinnvoll und überfällig. Doch leider: es bleibt bei ihnen, es bleibt beim technischen Umweltschutz und der Wohnraummaximierung. Berlin möchte so gern Metropole sein; dazu braucht es doch aber auch die Idee der Stadt, also so etwas wie eine kulturelle, gesellschaftliche Vision vom Gemeinwesen, von der städtischen Lebensweise. Nur so wird man sinnvolle Antworten auf wucherndes Wachstum und soziale Zergliederung und Zersiedelung finden können. Also Polis, Stadt gegen Staat, Stadtrepublik und: „Der Mensch ist ein städtisches Wesen“ wie sich Aristoles‘ Wendung vom „zoon politikon“ bekanntlich auch übersetzen läßt. Das ist eine gute Tradition, und sie harrt ihrer sagen wir - ökologischen Neuformulierung. Ich weiß, das ist nicht Aufgabe von Regierungsprogrammen, es läßt aber Zweifel aufkommen, wenn nicht ersichtlich ist, ob den Koalitionären das Problem überhaupt bewußt ist.

Beispiel Wohnungsbau: Mehr Wohnungen soll es geben, steht in den Vereinbarungen, und umweltverträglicher sollen sie auch sein. Ende der Durchsage. Wie aber, wenn man noch etwas zur Qualität, zur Methode, zum Modus hinzugefügt hätte? Etwa (ich beziehe mich hier auf einen Vorschlag aus dem Umfeld der Frankfurter Grünen); man setzt die Raumstandards (also die Wohnungsgröße) herauf und die Ausbaustandards herunter. Damit würde man dem Bedürfnis der Leute nach mehr Raum für Selbstverwirklichung sowie der Realität ausdifferenzierter Lebensformen gerecht, würde die individuelle Ausgestaltung den Bewohnern überlassen und würde zudem Kosten sparen. Den Geist solcher Innovation vermisse ich in den Vereinbarungen.

Anderes Beispiel: Wohnungsbau braucht Platz. Wie wäre es, wenn man nicht (wie in den Vereinbarungen vorgesehen) die Kapazitäten aller drei Flughäfen einfriert, sondern Tegel entschlossen ausbaut, den Amerikanern und Engländern den Vorschlag unterbreitet, ihren Flugverkehr nach Tegel zu verlegen - um damit (vor allem in Tempelhof) ein wunderbares, riesiges Gelände zu gewinnen, auf dem neue, Arbeit und Leben durchmischende sowie ökologisch avantgardistische Bauformen erprobt werden können?

Schließlich: Hochschulen. Da ist in den Vereinbarungen vieles gut gemeint, Entscheidendes aber fehlt. Universitäten sind heute verbürokratisierte, an den Staat ausgelieferte Großapparate, 100.000 Studenten plus 10.000 Beamte; das kann nicht gutgehen. Eine Vision wäre die radikale Selbständigkeit der Universität und eine Verantwortlichkeit, die ihr nicht vom Staat aufgedrückt wird, die sie vielmehr selbst entwickelt. Zum Beispiel könnte man Konrad Schily einladen, in Berlin eine Reformuniversität zu gründen, die auch staatliche Gelder erhält, aber unabhängig agiert. Es wäre traurig um die Zukunft bestellt, wenn wir uns eine Wissenschaft, die der Gesellschaft nicht feindlich gegenübersteht, nur unter staatlicher Kontrolle vorstellen können. Auch hier gilt die Idee der Selbsthilfe: die Vereinbarungen fordern, daß neue Fragestellungen (etwa Frauenforschung und Umweltschutz) schneller Eingang in die Forschung finden müssen. D'accord, doch es geht nicht vorrangig darum, der Wissenschaft neue Inhalte zu verordnen. Unsere eigene Geschichte kann uns lehren, wie kurzsichtig das wäre: So wie uns vor zwanzig Jahren die Umweltforschung im Traum nicht eingefallen wäre, so fällt uns heute mit Sicherheit nicht ein, was in zwanzig Jahren gefragt sein wird. Es geht also nicht um die Inhalte, sondern um die Methode. Nicht der Staat soll der Wissenschaft die Blickrichtung vorgeben, sondern die Wissenschaft selbst muß

-um mit Ulrich Beck zu reden - den Zweifel, die Frage, gewissermaßen die Gegenforschung gegen den jeweiligen Mainstream organisieren. Auch dieser Geist weht in den Vereinbarungen nicht.

Kultur, Ausländer- und Flüchtlingspolitik, Deutschlandpolitik

Ganz kurz zur Kultur: Aus diesem Teil der Vereinbarungen springt einem die Lust- und Interesselosigkeit der Verfasser geradezu ins Auge - wahrlich eine überzeugende Antwort auf Volker Hassemers kulturelles Big Business. Eine Idee ist nicht auszumachen, dafür machen sich die Partialinteressen diverser Lobbys um so deutlicher bemerkbar. Und am erstaunlichsten: Ausgerechnet im Kulturteil taucht das Stichwort „multikulturelle Gesellschaft“ nicht einmal auf. Damit bin ich bei „Ausländer- und Flüchtlingspolitik“. Was hier geboten wird, ist ein starkes Stück. In der Tat: Die multikulturelle Gesellschaft steht auf der Tagesordnung. Aber nicht erst, seit Salman Rushdie für vogelfrei erklärt wurde, können wir wissen, daß dies kein Kinderspiel, kein Ringelpiez mit Anfassen, daß sie kein befriedeter alternativer Schrebergarten sein wird. Und seit gestern wissen wir definitiv, daß sich am rechten Rand der Gesellschaft nach längerer Inkubationszeit wieder etwas regt. Wie reagiert man darauf? „Ausländer raus!“ - es wäre ungeheuer gefährlich und unverantwortlich, darauf mit der puren Umkehrung der Losung zu antworten, die Ausländer also zu den Lieblingen der Nation zu erklären (die Parallelen zum Philosemitismus der frühen Bundesrepublik liegen auf der Hand). Hier ist es mit alternativer Blauäugigkeit nun wirklich nicht mehr getan: Die multikulturelle Gesellschaft ist erst einmal überhaupt keine Blumenwiese, sondern ein überaus konfliktreiches Gebilde. Die „Republikaner“ in Berlin und die NPD in Frankfurt: das ist nicht einfach nur brauner Bodensatz plus Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, dahinter verbergen sich auch ganz reale, ernst zu nehmende kulturelle Konflikte. „Ausländer raus!“ mit dem linken Äquivalent „Nazis raus!“ (nebenbei: wohin bitte? Etwa „nach drüben“?) zu beantworten, ist mit Sicherheit der falsche Weg. Wir wissen jetzt, daß wir uns auf die parlamentarische Präsenz rechter Parteien einzurichten haben. Das hat auch einen Vorteil: Es besteht nun die Möglichkeit, dem rechten Potential politisch zu begegnen. Dabei wird das Bild von der heilen multikulturellen Welt wenig hilfreich sein. Berlin als Drehscheibe: das ist vermutlich zu hoch und zu weit geggriffen; aber wenigstens das: Konfrontation, Austausch der Kulturen - Nord-Süd, aber auch Ost-West. Was das heißen könnte, hat Karl Schlögel in einem Artikel über den Krempelmarkt gezeigt; siehe da, die Stadtwüste lebt, und Berlin selbst tut nun, was den Regisseuren der Stadtinszenierung der letzten Jahre nicht gelungen ist. Der offensive Umgang mit solchen Ost-West- und vielleicht auch Nord-Süd-Märkten, Märkten im allerwörtlichsten und im übertragenen Sinn: das wäre schon eine Perspektive. Dabei wäre es aber ratsam, die Ängste derer ernstzunehmen, die das Kreisen der Drehscheibe in Verwirrung stürzt.

Was tun? Die unerwartete Chance selbstverständlich nutzen. Parteien sind aber bekanntlich in der Regel nicht besser, sondern schlechter als ihre Wähler. Beide Parteien bedürfen dringend der Hilfe von außen. Nicht ein Mangel, sondern ein Luxus ist das Problem: der Luxus, den sich die linke, alternative, kritische, anthroposophische, staatsabgeneigte und auf Neuerungen begierige Berliner Öffentlichkeit leistet, wenn sie die Politik der Stadt auch weiterhin den Funktionärstruppen von SPD und AL überläßt. Das Problem liegt nicht in der Müller- und auch nicht in der Badenschen Straße, sondern bei jedem von uns.

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