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Roßkur durch die Hintertür

In Litauen senkte sich die Inflation quasi von selbst, doch die Preise sind horrend / 1994 drohen Massenkonkurse der Staatsbetriebe  ■ Aus Vilnius Klaus Bachmann

Als die litauische Nachrichtenagentur Elta einen Reporter mit Westerfahrung auf Erkundungstour auf den Gediminas-Boulevard in Vilnius schickte, stellte dieser erstaunt fest, daß die meisten Importwaren dort zwischen zwei- bis sechsmal so teuer wie in Deutschland waren. Deutsche Dosenwürstchen – im Berliner Supermarkt für 3,99 Mark erhältlich – kosten in Litauens Hauptstadt 25 Lit, das entspricht 11 Mark. Ähnlich sind die Verhältnisse bei Bier, Reis, Mayonnaise und Konserven.

Trotzdem sind die Läden in der Stadt mit westlichen Importwaren überschwemmt, und es ist leichter, italienische Schuhe oder ein englisches Jackett zu finden als ein Paar litauische Gummistiefel. Obwohl das statistische Durchschnittseinkommen in der litauischen Staatswirtschaft bei knapp 100 Mark im Monat liegt, sind die blitzenden Einkaufspassagen voll. Wo früher öde, heruntergekommene sowjetische Läden waren, in denen Schlangen verhärmter Kunden nach altem Brot und schwärzlichen Fleischresten anstanden, funkeln jetzt Passagen und chromglänzende Importgeschäfte mit freundlichen Verkäuferinnen. Das westliche Flair hat nur einen Nachteil: die horrenden Preise.

Den Importboom hat Litauen einer monetaristischen Roßkur zu verdanken, die Ende Juli mit der Einführung der neuen litauischen Währung, dem „Litas“, begann und gewissermaßen durch die Hintertür kam. Hatte 1992 die Inflationsrate noch bei 1.163 Prozent gelegen, waren es Ende 1993 gerade noch 180 Prozent. Und das, obwohl die Löhne im ablaufenden Jahr insgesamt zehnmal der Inflation angepaßt werden mußten und fast auf das Dreifache gestiegen sind. „Die Händler haben alle die Waren zurückgehalten, weil sie auf die Einführung des Litas gewartet haben“, erklärt Salomeja Girijotiene, Wirtschaftsberaterin des litauischen Präsidenten Algirdas Barazauskas. „Als der Litas dann kam, gelangte eine viel größere Warenmenge auf den Markt, so daß die Inflation schlagartig zurückging.“

Da die Regierung anders als früher die Geldmenge nicht durch höhere Subventionen aufblies, stieg die Hartwährungskaufkraft der Litauer kräftig. Hatte ein Durchschnittsverdiener für seine Kupons Anfang 1993 gerade mal 18 Dollar eintauschen können, sind es heute immerhin 56. Statt wie früher wertlose, abgegriffene Papierfetzen päckchenweise mit sich herumzutragen, haben die Litauer nun in England und Skandinavien gedruckte Scheine im Portemonnaie, die zwar noch nicht voll konvertibel sind, aber ansonsten fast so stabil sind wie eine Hartwährung.

Für die Litauer mag es noch erfreulich sein, daß es nun überall die früher nur erträumten westlichen Importwaren zu kaufen gibt. Für Litauens Wirtschaft dagegen kommt das böse Ende noch nach. Bisher gibt es nur etwa zwei Prozent Arbeitslosigkeit. Doch genauso hoch dürfte die verdeckte Arbeitslosigkeit sein: Betriebe zahlen weiter Arbeitern den gesetzlichen Mindestlohn, für die sie gar keine Arbeit mehr haben. Im Vergleich zu 1989 ist die Industrieproduktion auf die Hälfte geschrumpft, die Landwirtschaft produziert heute nur zwei Drittel der 89er Ernte. Für 1994 drohen nun Massenkonkurse und eine bedeutend höhere Arbeitslosigkeit.

Hilfe aus dem Ausland wird nicht kommen. Aleksandras Vasiliauskas, Wirtschaftsprofessor und ebenfalls Mitglied des Beraterteams von Brazauskas: „1992 kamen gerade etwas über vier Millionen Dollar an ausländischen Investitionen nach Litauen, gerade 3,7 Prozent der Gesamtinvestitionen. 1993 war die Relation etwas besser, aber hauptsächlich deshalb, weil unsere eigenen Investitionen weiter gesunken sind.“ Kreditzusagen von westlichen Regierungen, IWF und Weltbank gibt es über 400 Millionen Dollar. Doch wieviel davon unten ankommen wird, vermag niemand zu prognostizieren. Selbst in wirtschaftlich kräftigeren Ländern wie Polen oder Ungarn wurden solche Kredite oft nur zu 20 bis 40 Prozent genutzt.

Trotz allem, stellt Salomeja Girijotiene auch zu ihrem eigenen Erstaunen fest, hat Litauen 1993 einen Handelsbilanzüberschuß von 70 Millionen Dollar. Private Händler, die sich am Im- und Exportgeschäft zwischen Riga, Warschau und Berlin angesichts der horrenden Preise in Litauen eine goldene Nase verdienen, halten das allerdings für ein rein statistisches Phänomen: Ein Großteil des privaten Imports werde von der staatlichen Bürokratie gar nicht erfaßt.

„Kaum jemand füllt diese ganzen Statistikformulare aus“, sagt ein Händler, „schon deshalb nicht, damit sie Schutzgelderpressern nicht in die Hände fallen.“ Diese haben, so behaupten Insider, ihre Spitzel in den Statistik- und Finanzämtern. Denn die Höhe des Schutzgeldes wird aus der Höhe des Umsatzes berechnet – was neben der 15prozentigen Umsatzsteuer zumindest teilweise die enormen Preise in Litauen erklärt.

Vor allem aber mangelt es an Konkurrenz. Dies macht sich auch bei den etwa 20 meist privaten Banken bemerkbar, die in Litauen inzwischen entstanden sind. Noch sorgt die Hochzinspolitik dafür, daß es ihnen gut geht. Das dürfte sich ändern, wenn ihre Schuldner nächstes Jahr in Massen Konkurs anmelden sollten. Dann erst wird sich erweisen, ob sich Litauens Linksregierung ihre Antiinflationspolitik politisch leisten kann.

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