Roman über erste Dramatikerin der Welt: Rätselhafte Hrotsvit
Sarah Raichs Roman „Hell und laut“ erzählt von Hrotsvit von Gandersheim. Die erste deutsche Dichterin hat im 10. Jahrhundert dem Patriarchat getrotzt.
So frustrierend: Am Ende dieses feurigen Romans von Sarah Raich steht das dringende Bedürfnis, nun auch seiner Hauptfigur zu begegnen, also wenigstens ihren Schriften. Denn „Hell und laut“ dreht sich um Hrotsvit von Gandersheim.
Und die hat zwischen 935 und 973 wirklich gelebt und gedichtet. Sie ist die erste Dramatikerin der Weltliteratur. Ihre Werke sind auch gut überliefert. Es gibt sie aber nicht, obwohl sie existieren.
Der deutsche Buchmarkt hat da eine Lücke. Die veralteten Übersetzungen der famosen Helene Homeyer veröffentlicht kurz bevor sie aus Nazi-Land floh, sind längst vergriffen und aus den Bibliotheken entfernt. Das neuere Reclam-Bändchen mit zwei Dramen findet sich bestenfalls secondhand. Und im Internet kommt so richtig nur auf seine Kosten, wer das verwachsene Vulgär-Latein des 10. Jahrhunderts liest, das schon damals niemand zu Literatur zu formen vermochte.
Niemand, außer dieser rätselhaften, nicht durchs Gelübde gebundenen Bewohnerin eines Nonnenstifts in der sächsischen Provinz: Hrotsvit hatte sich dem Regime der Zwangsverheiratung erfolgreich entzogen – so wie Frauenfiguren ihrer Stücke sich gegen das patriarchale Regime ihr Selbstbestimmungsrecht erstritten haben.
Roman Sarah Raich „Hell und laut“, Marix-Verlag, Wiesbaden 2023, 432 S., 24 Euro / e-Book 18,99 Euro
Am Weltfrauentag 2025 liest Sarah Raich in Bad Gandersheim
Raich übersetzt das geschickt in erfundene Familiengeschichte, ebenso wie konkrete erotische Erfahrungen, die sich in Hrotsvits Texten detektieren lassen. Dabei geht sie mit der von Altphilolog*innnen als verroht empfundenen Sprache ihrer Epoche so virtuos um, wie eine Amanda Gorman mit ihrem auch nicht gerade klassischen Englisch.
Eingängig sind ihre Rhythmen, melodisch ihre Verse, und ja, Hrotsvit experimentiert sporadisch auch mit Reimen: Die nutzt damals fast nur die persisch-arabische Kultur. Wäre Hrotsvit mit der in der im Entstehen begriffenen Urwaldsiedlung am westlichen Harzrand in Berührung gekommen?
Total unwahrscheinlich. Bloß unwahrscheinlich ist halt diese gesamte Person, unwahrscheinlich auch ihr literarisches Werk mitten in einem Jahrhundert, für das im Kanon der Allgemeinbildung kein Platz ist.
Das ist viel zu reich an verzwickten Intrigen, zu verstörend durch die Pornokratie im Vatikan, zu unübersichtlich durch die Entwicklungen in ganz Europa, die auch das Verhältnis der Geschlechter in diskursive Bewegung gebracht hatten.
In diese Zeit und ihre Weltpolitik hat sich Hrotsvit eingeschrieben, am deutlichsten durch eine Vers-Chronik, die Ottos I. Taten rühmt. Die entstand erst, als aus dem König schon ein Kaiser geworden war, also nachdem er sich in den wichtigen Fehden durchgesetzt hatte, gegen seinen ersten Sohn und gegen den aggressiven Bamberger Berengar II., Markgraf von Ivrea und usurpatorischer König Italiens, den Sie möglicherweise nicht kennen. Nicht schlimm: In Raichs Roman können Sie ihn kennenlernen.
Sarah Raich beleuchtet nämlich diese Epoche und ihr oft schrilles Personal mit erstaunlichem Detailwissen: Vor diesem fesselnden historischen Panorama – fast ohne störende Anachronismen – choreografiert sie über große geografische und zeitliche Distanzen hinweg die große Zahl der Unwahrscheinlichkeiten, die ihre Heldin ausmachen, zu einer so abenteuerlichen Erzählung. Die erweckt, höchst spannend, die Geschichte jener „seltsamen Frau“, als die Hrotsvit sich selbst erschienen sein muss, zum Lesen.
Raich agiert dabei als Komplizin des Œuvres. Sprich: Sie nutzt es zwar auch als Quelle einer imaginären Biografie Hrotsvits. Vor allem aber destilliert sie aus ihm die Biografie ihres Imaginären, also von Hrotsvits Begehren, ihren Träumen. Nachvollziehbar wird so ihr rätselhafter Drang, zu dichten: „In allem war ein Lied, das zu ihr sang“, heißt es einmal. Das klingt schön, ist es auch. Es benennt aber zugleich eine Last, der Hrotsvit ausgeliefert ist, wie einem Tinnitus.
Raich ist in Göttingen geboren. In Bad Gandersheim war sie Schülerin des Gymnasiums, das damals gerade nach Hrotsvit benannt wurde. Das wirkt freilich wie die Folge einer Strategie der perversen Erinnerung, die dazu dient, sich mit der Figur zu schmücken, ihr Werk aber umso besser zu negieren. Sieht Raich ähnlich: Hrotsvit sei ihr jedenfalls „im Unterricht kein einziges Mal begegnet“, bestätigt sie.
Die Anregung, im Fach Latein auch mal etwas von ihr zu übersetzen, statt immer nur verschwurbelte Kriegsrhetorik, sei erfolglos geblieben. Sie selbst aber habe „Hrotsvit seitdem nicht losgelassen“. Anfang des Jahrhunderts, während des Literaturstudiums, aber abseits auch davon, habe sie dann begonnen, die nur scheinbar frommen Texte der Kanonisse zu lesen, erst aus einer Art Pflichtbewusstsein.
Vergewaltigungen und Femizide
Aber dann mit wachsender Begeisterung: Vor allem in den Vorreden, in denen diese Frau „Ich“ sagt und ihr eigenes Schreiben thematisiert, bleibt sie wunderbar gegenwärtig. „Mich hat diese latente Renitenz – dieser deutliche Wille, den eigenen Weg zu gehen, sehr beeindruckt.“
Raichs Roman ist ein durchaus deftiges Buch, wie könnte das anders sein angesichts einer Protagonistin, die in einer ihrer Komödien die peinliche männliche Hauptfigur dabei zeigt, wie sie Töpfe und Pfannen begattet. Auch berühmte Schlachten kommen vor, bei denen Blut spritzt und Schädel gespalten werden. Manchmal lehnt sich die Komposition sehr an konventionelles Thriller-Plotting an.
Umso überzeugender aber verzahnt der Roman das Leben Hrotsvits in kühnem fiktiven Griff mit dem Werdegang des Liutprand, der zum Bischof von Cremona avanciert: Kaum eine reale historische Gestalt verbindet besser als dieser hoch intellektuelle Aufsteiger die geografischen Sphären und Machtzirkel, die Hrotsvits Werk zusammenbringt.
Im Roman fungiert Liutprand als eine Art Lehrer Hrotsvits, der ihr Talent erkennt, sie beneidet und missbraucht: „Hör auf, schrie sie und blieb doch stumm, wusste nicht mehr, ob sie wach war, oder träumte.“
Hrotsvit selbst schreibt noch expliziter über Vergewaltigungen, dauerpräsent ist das Thema Femizide. Sie erzählt sie als Teil weiblichen Martyriums. Und immer wieder sucht die Frage der äußeren und inneren Gegenwehr ihre Texte heim.
Dieses Fragen wird auf bewegende Weise in „Hell und laut“ kenntlich als Signatur weiblichen Schreibens. Dadurch macht der Roman Hrotsvit in all ihrer Ferne und Fremdheit zur Zeitgenossin. Längst überfällig wäre, ihr eine Bühne zu bereiten.
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