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Roman über AfghanistanNur Buddha wacht ewig

In seinem Roman "Haus der fünf Sinne" erzählt der britische Pakistani Nadeem Aslam von der oftmals absurden Realität des geschundenen Land Afghanistan.

Autor Nadeem Aslam. Bild: robin farquhar thomson

In einem einsam gelegenen Haus unweit der afghanischen Tora-Bora-Berge lebt ein alter englischer Arzt, Marcus. Er ist Witwer. Seine afghanische Frau ist von den Taliban gesteinigt worden, die Tochter zuvor in den Kriegswirren umgekommen. Ihr kleiner Sohn, den sie nach der Vergewaltigung durch einen sowjetischen Soldaten gebar, wurde als Kleinkind verschleppt. Sein Großvater hofft jedoch, fast zwei Jahrzehnte später, immer noch, ihn wiederzufinden. Nur deshalb harrt Marcus aus in seinem Haus. Er hält Wache.

"The Wasted Vigil" heißt Nadeem Aslams Roman im Original, in etwa: Die vergebliche Wache. Damit haben die Englischleser den Deutschlesern etwas nicht Unerhebliches voraus, das Vorabwissen um den tragischen Grundton dieser gewalthaltigen Geschichte. Der Titel "Das Haus der fünf Sinne" dagegen, zusammen mit dem Coverbild, das eine mit güldenen Armreifen geschmückte Frauenhand zeigt, scheint auf unoriginell marktgängige Weise auf der Klaviatur des erotischen Exotismus zu spielen. Vielleicht ist es ja so, dass sich dem deutschsprachigen Publikum nur über den Umweg des Vorspiegelns falscher Genretatsachen eine Art von Literatur unterjubeln lässt, die hierzulande gründlich aus der Mode gekommen scheint?

Nur sehr wenige AutorInnen deutscher Zunge würden sich wohl so ausdrücklich zu dem bekennen, was der 1966 in Pakistan geborene Nadeem Aslam, der in Großbritannien lebt, seit er 14 war - sein Vater, ein Kommunist, musste vor Zia ul-Haq fliehen -, als Auftrag von Literatur begreift. In einem Interview befragt, ob er mit "The Wasted Vigil" einen politischen Roman habe schreiben wollen, erklärt Aslam, als Pakistani und somit Teil der muslimischen Welt könne er gar nicht anders, als ständig zu merken, wie sehr die Politik das tägliche Leben der Menschen bestimme. Also: ja. Natürlich ist "Das Haus der fünf Sinne" ein politischer Roman, denn er handelt davon, wie die Politik und ihre Fortsetzung mit den Mitteln des Krieges das Leben der Menschen in Afghanistan seit vielen Jahren auf grausame Weise bestimmt. Doch nicht nur diese Themenwahl macht den Roman zu einem rechten Solitär, sondern auch seine außergewöhnlichen formalen Qualitäten. Es geht um Bilder in Worten.

Das Cover der britischen Originalausgabe ziert ein liegender Buddhakopf. Dieser Buddha, sicher auch literarisches Mahnmal der zerstörten Riesenbuddhas von Bamijan, spielt eine zentrale Rolle im Symbolsystem des Romans. Beim Bau einer Parfümfabrik neben dem Haus, so geht seine Geschichte, war Marcus auf die im Boden ruhende Statue gestoßen und hatte sie dort belassen, das Gebäude um sie herum errichtend. Als später Taliban versuchen, den Buddha durch Gewehrfeuer zu zerstören, schimmert es golden aus den Einschusslöchern, sodass die Schützen schließlich verstört davon ablassen.

Der Statue ergeht es somit deutlich besser als den echten Bamijan-Buddhas, besser auch als dem lebenden Personal des Romans, das sich zu dessen Ende deutlich reduziert findet. Eine sehr unwahrscheinliche Zusammenkunft von Menschen ist es, die Nadeem Aslam im afghanischen Haus des englischen Arztes versammelt. Da gibt es die Russin Lara, die nach Spuren ihres im Krieg verschollenen Bruders sucht. Den ehemaligen CIA-Angehörigen David, der früher mit Marcus' Tochter Zameen und deren Sohn zusammengelebt hat. Den jungen afghanischen Selbstmordattentäter Casa. Und schließlich die junge Dorflehrerin Dunia, die von der örtlichen Bevölkerung ihres vermeintlich freizügigen Lebenswandels wegen abgelehnt wird.

Diese lehrstückhaft anmutende Personenaufstellung erinnert spontan an Vorläufer aus der politischen Dramenliteratur. Von ferne grüßt vielleicht gar Lessings Nathan. Gleichzeitig aber bestimmt eine mehr lyrische als epische Erzählhaltung Aslams Umgang mit dem Stoff. Rückblenden sind auf so assoziativ-unvermittelte Art Teil des Textes, dass die Chronologie des Erzählten eingeebnet scheint, als sei das Vergangene noch immer Teil der Gegenwart. Ein sehr in Bildern arbeitendes, visuelles Erzählen erhebt noch kleinste Szenen ins Symbolhafte. Zugleich bleiben einem die Figuren, wozu der hohe Erzählton ebenfalls beiträgt, recht fern.

Dafür allerdings kann man dankbar sein, denn anders als von der erhöhten Warte der Kunstwahrnehmung aus ließen sich manche Teile der Lektüre wohl nur schwer ertragen; zu schrecklich ist das Unrecht, das all diese Menschen erlitten oder begangen haben. Doch schlimmer noch als von Folter, von Vergewaltigung, von der erzwungenen Amputation von Marcus' Hand durch seine eigene Frau zu lesen, ist das Wissen um die Identität des jungen Dschihadisten Casa, der verletzt in Marcus' Haus aufgenommen wird. Diese Figur, obgleich es sich um den Charakter handelt, dessen Denken uns am allerfremdesten sein sollte, ist doch diejenige, die uns am nächsten kommt, da ausgerechnet dieser Junge so schillernd, so lebendig, hin und her gerissen zwischen ideologischer Verblendung und menschlicher Regung, dargestellt wird wie keine andere Person.

Dass es sich bei ihm um den verlorenen Enkel handelt, der als Kleinkind in die Fänge eines Stammesfürsten geriet und als Menschenmaterial für den "heiligen Krieg" großgezogen wurde, wissen bis zum Schluss nur wir, die Leser. Schmerzlich ist es, zu sehen, wie von diesem durch lebenslange Hirnwäsche radikalisierten jungen Mann unsichtbare Fäden zu allen anderen Figuren gehen, eine geheime und doch in der Realität unmögliche Familie andeutend. Seine Tante, sein Ziehvater, sein Großvater, vielleicht sogar seine unter anderen, irrealen Umständen zukünftige Frau: Alle sind sie an diesem Ort versammelt, doch ist es ihm und ihnen verwehrt, sich gegenseitig zu erkennen. Eine Tragödie von klassischem Zuschnitt.

Nadeem Aslam ist in seiner Arbeitsweise durchaus ein extremer Autor. Interviews, die er nach Erscheinen der englischen Ausgabe von "The Wasted Vigil" 2008 gab, thematisieren sämtlich die Enstehungsbedingungen des Romans. Monate am Stück lebte Aslam völlig isoliert, arbeitete nachts, schlief tagsüber und hinterließ auf dem Anrufbeantworter seines Bruders Nachrichten, wenn er nichts mehr zu essen hatte. Bruder und Schwägerin kamen dann vorbei, wenn der Autor schlief, um, sehr leise, den Kühlschrank aufzufüllen.

Das kann aber nur eine Phase im Entstehungsprozess des Romans gewesen sein, der ja etliche Jahre währte und zu dessen Beginn Aslam zahllose Gespräche mit Exilafghanen führte, bevor er eine ausgedehnte Reise nach Afghanistan und Pakistan unternahm. Die während der Recherche erworbenen Detailkenntnisse sind in zahllosen Wirklichkeitssplittern in die Textur des Romans eingedrungen und entfalten, verwoben mit der fiktiven Handlung, eine oft verstörende ästhetische Wirkung.

Es ließe sich auf viele verschiedene Arten darüber erzählen, wie die Menschen aus Angst vor den Taliban Dinge in der Erde vergruben - Fernseher, Bilder, Bücher, Instrumente. Bei Aslam werden diese vergrabenen Schätze zu einem markanten Zeichen des geistigen Widerstands. Wenn Marcus im Garten den vergrabenen Fernseher sucht oder wenn Casa auf etwas Klingendes tritt, das er für eine Mine hält, das in Wirklichkeit aber das vergrabene Klavier ist, so kehrt mit jedem der versteckten Gegenstände ein Stück des richtigen Lebens zurück ins falsche.

Der geheime Mittelpunkt dieser geretteten Dinge und das zentrale Symbol des Romans aber ist das Haus selbst. (Rein inhaltlich betrachtet, ist "Das Haus der fünf Sinne" ein durchaus schlüssiger Titel.) Jeder Raum ist mit Wandmalereien geschmückt, die je einem der menschlichen Sinne gewidmet sind; der oberste Raum gehört der Liebe. Hier beginnt Lara, zentimeterweise die Lehmschicht wieder abzukratzen, die Marcus während des Taliban-Terrors aufgetragen hatte, um die Bilder zu verbergen. Derweil fallen immer wieder Bücher von der Decke. Marcus' Frau Qatrina hatte sie, schon geistig verwirrt, zum Schutz vor den Religionswächtern dort festgenagelt.

In der Überdeutlichkeit der üppigen Aslam'schen Symbolik liegt eine gewisse Gefahr - jene, im schwammigen Grenzbereich zwischen Kunst und Kitsch auch mal auf die falsche Seite zu geraten. Doch auch wenn es hier und da eine Farbschicht weniger auch getan hätte, so wird man doch von der Aslam'schen Bilderwelt immer wieder aufs Neue überrascht. Die eigentümliche Vision der an die Decke genagelten Bibliothek bleibt lange haften, ebenso wie viele andere, völlig verkehrte und doch seltsam poetische Bilder, wie jenes einer von aufständischen Taliban errichteten, riesigen Straßensperre, die aus prachtvoll blühenden Obstbäumen besteht.

Ein afghanischer Autor hätte sicher einen anderen, in mancher Hinsicht "authentischeren", Roman geschrieben. Einen Roman aber, in dem die oft absurde Realität jenes geschundenen Landes so entschlossen ins allgemein Symbolhafte getrieben wird, dass allen, die ihn lesen, klar wird, dass hinter dem Hindukusch die großen Fragen des Menschseins an sich verhandelt werden, den konnte wohl nur einer schreiben wie Nadeem Aslam. Einer, der weit genug weg ist, um den aufmerksamen Blick des fremden Beobachters zu bewahren, und nah genug dran, um seine Geschichte mit großer empathischer Kraft aufzuladen. Einer, der einen so schwer fassbaren Stoff zu einem Roman bändigen kann, ohne Angst vor lyrischem Pathos. Vor allem: einer, der noch ernsthaft glaubt an die Wirkungsmacht der Literatur.

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