piwik no script img

Rock 'n‘ Roll unter allem

■ Chuck Berry zerstört den Mythos seiner Lieder

In dem biografischen Film „Hail, Hail Rock'n roll“ wird ausführlich beschrieben, wie ein Chuck-Berry-Konzert abläuft. Ein alter Mann betritt die Bühne, schnallt sich sein Instrument um und beginnt zu spielen, ohne seine Band in die Gemheimnisse der Musik eingeweiht zu haben.

Wer in Wilhelmshaven - beim einzigen Chuck-Berry-Konzert in Norddeutschland - etwas anderes erwartet hatte, wurde nach Strich und Faden verladen. Chuck, der Meister im Spiel, Ratet mal, welchen Berry-Song ich gerade singe, der Meister des unvorhergesehenen Tonartenwechsels, bewies einmal mehr, daß er der schrägste Chuck Berry-Interpret unter der Sonne ist. John Lennon sagte einmal: „Wenn Du versuchst, dem Rock'n‘ Roll einen anderen Namen zu geben, könntest Du ihn Chuck Berry nennen.“

Seit 30 Jahren tingelt Chuck Berry durch die Welt. Seine Lieder haben sich längst seiner Kontrolle entzogen, fast jedes Kind kennt „Jonny B. Goode“, „Sweet

little sixteen“ oder „Rock'n Roll Music“ in-und auswendig. 200 Mal im Jahr versucht Chuck Berry, den Fluch „King of Rock'n Roll“ loszuwerden. Er sagt dem Publikum: „Hey Leute, nehmt das alles nicht so wichtig, es ist doch nur Rock'n Roll.“ Als er in Wilhelmshaven auf der Bhne herumstümperte, wie der letzte Amateur, die Heiligtümer seiner eigenen Kompositionen zerstümmelte bis zur Unkenntlichkeit, die Wut auslies an den Geistern, die er selbst geweckt hatte, wurde er ein sympatischer alter Mann. Kurz und gut: Es war ein nettes und ein saumäßiges Konzert zugleich, eine wilde Schlammschlacht, bei der einem die Chuck Berry Songs nur so um die Ohren flogen.

Wenn noch irgend ein Mensch auf dieser Erde glaubt, die aus dem Rock'n Roll entwickelte Pop-Musik habe heute noch im entferntesten etas mit Rock'n Roll zu tun, dem sei eine Original Chuck Berry-Packung empfohlen. Prompte Heilung ist garantiert. Iko Andre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen