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Robin Nandy von Unicef-Impfprogramm„Das macht mir schlaflose Nächte“

Unicef impft weltweit die Hälfte der Kinder gegen tödliche Krankheiten. Mit den Vakzinen gegen Covid-19 drohe Überlastung, sagt der Programmleiter Robin Nandy.

Polio-Impfung in Äthiopien: Viele solcher Programme sind wegen der Pandemie gestoppt worden Foto: Tadesse/UNICEF
Ingo Arzt
Interview von Ingo Arzt

taz: Herr Nandy, in den letzten Monaten hat Unicef immer wieder vor den Folgen der Pandemie für Kinder weltweit gewarnt. Es drohe eine verlorene Generation. Haben wir eine Krise in der Krise?

Robin Nandy: Ja, absolut. Wir warnen schon lange davor. Zu Beginn der Pandemie gab es massive Unterbrechungen von wichtigen Dienstleistungen zur Daseinsvorsorge, auch von Impfprogrammen. Wir und die WHO haben lediglich empfohlen, Massenimpfungen temporär auszusetzen.

War bereits das ein Fehler?

Das glaube ich nicht. Ich würde heute wieder so entscheiden. Wenn wir Gesundheitsdienste anbieten, wollen wir damit keinen Schaden anrichten. Bei unseren globalen Impfkampagnen ist per Definition ein großer Teil der Bevölkerung aus verschiedenen Kommunen involviert, die untereinander und mit zahlreichen Mit­ar­bei­te­r*in­nen unserer Gesundheitsdienste in Kontakt kommt. Die ziehen dann wieder weiter – und das während einer Pandemie. Es war pragmatisch, das zu unterbrechen und Routineimpfungen und andere Gesundheitsdienste weiter anzubieten. Aber viele Länder waren mit Covid überfordert und sind mit der sonstigen Gesundheitsvorsorge nicht hinterhergekommen. Manchmal haben Menschen Gesundheitseinrichtungen nicht mehr aufgesucht, weil sie Angst vor einer Ansteckung mit Covid hatten.

Unicef
Im Interview: Robin Nandy

begann seine Karriere als Arzt für öffentliche Gesundheit in Delhi, Indien, ist außerdem Epidemiologie und leitet heute das weltweite Impfprogramm von Unicef.

Was hat dadurch gefehlt?

Ich spreche von Impfungen gegen vermeidbare Krankheiten. Die kann man vielleicht ein paar Wochen oder vielleicht auch Monate verzögern, aber dann wächst die Zahl der anfälligen Kinder und die von Krankheitsausbrüchen unweigerlich. Anderes ist nicht aufschiebbar: Schwangerschaftsvorsorge, Notfallgeburtshilfe, Fürsorge für Neugeborene und deren Mütter, ebenso wie die Behandlung von Durchfallerkrankungen, Malaria oder Lungenentzündungen. Seit August, September wird vieles wieder fortgeführt, Impfungen gingen schneller wieder los. Aber noch haben wir den verlorenen Boden nicht wiedergutgemacht – und jetzt kommen die Impfungen gegen Covid-19 noch dazu.

Im Juli veröffentlichte das Fachmagazin „Lancet“ eine Hochrechnung, nach der die Unterbrechungen, von denen Sie sprechen, weltweit zwischen 250.000 und einer Million Kindern das Leben kosten könnten. Ist das passiert?

Man muss solche Hochrechnungen permanent überprüfen. Wenn Sie die Situation von Mai 2020, als die Gesundheitsvorsorge oft fast komplett unterbrochen war, einfach hochrechnen, dann haben Sie eine solche Vorhersage. Aber viele Dienstleistungen funktionierten später wieder. Diese Modellrechnungen hängen von den Annahmen ab, die man ansetzt. Sie hatten aber ihre Bewandtnis, weil sie ein Schlaglicht darauf geworfen haben, was passiert, wenn man die Gesundheitsvorsorge in Entwicklungsländern länger unterbricht.

Gab es denn wegen Impfunterbrechungen Ausbrüche von Krankheiten, die vermeidbar gewesen wären?

Wir hatten solche Ausbrüche, aber man muss vorsichtig sein: Wir können die nicht unmittelbar auf die Unterbrechungen wegen Covid zurückführen. Es gab auch in den Jahren zuvor Masernausbrüche. Das ist eine Krankheit, die weitaus ansteckender als Covid ist.

Und sie ist für Kinder in Entwicklungsländern sehr gefährlich.

Ja, besonders dort, wo unter Unterernährung und Vitamin-A-Mangel herrscht, steigt die Sterblichkeit unter Kindern stark an. Das trifft die ärmsten Bevölkerungsschichten.

Industrieländer impfen bereits gegen Covid-19, wie ist die Lage in Entwicklungsländern?

Bisher sind die Impfstoffe in fast allen Entwicklungsländern nicht erhältlich. Deshalb setzen wir bei der Impfallianz Gavi, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Unicef auf Covax, eine Einrichtung, mit der Entwicklungsländer gemeinsam Impfstoffe kaufen. Derzeit finalisiert Gavi die letzten Verhandlungen mit Impfherstellern. Wir erwarten, dass die ersten Impfdosen für Länder mit niedrigem und mittleren Einkommen Ende Februar zur Verfügung stehen.

Industrieländer können wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte 60 bis 70 Prozent ihrer Bevölkerung impfen. Ist es ungerecht, dass Entwicklungsländer wesentlich weniger Impfdosen bekommen?

Historisch gesehen ist jeder Impfstoff zuerst in Ländern mit hohen Einkommen eingesetzt worden. Manchmal dauerte es Jahre, bis Entwicklungsländer an der Reihe waren. Teil von Covax ist auch eine Initiative, die versucht, fairen Zugang zu Diagnosetools und Behandlungen gegen Covid zu gewährleisten. Für alle Länder, unabhängig von ihrem Einkommen. Und Covax soll bis Ende 2021 20 Prozent der Bevölkerung eines jedes Landes Zugang zu einem Impfstoff verschaffen.

Ist das realistisch?

Wir sind optimistisch. Auch wenn es nicht genau die Menge wird, in den meisten Ländern könnten wir das ungefähr erreichen. Aber es wird herausfordernd. Es geht nicht nur darum, Impfstoffe geliefert zu bekommen, sondern auch, sie zu verteilen. Das ist ganz anders als das, was wir sonst machen. Viele Entwicklungsländer haben Erfahrung damit, Kinder zu impfen. Jetzt wollen wir mit Gesundheitspersonal, Älteren und Hochrisikogruppen beginnen. Das muss akribisch geplant werden.

Hat Sie die internationale Gemeinschaft mit genug Material und Personal ausgestattet?

Das meiste Geld ist weltweit in die Entwicklung und Produktion der Impfstoffe geflossen. Die Mittel, um Länder auf die Impfstoffverteilung vorzubereiten, fließen zwar, aber wesentlich langsamer. Die Weltbank hat 12 Milliarden Dollar versprochen, um Covid-19-Impfungen organisieren zu können. Andere Entwicklungsbanken ziehen nach. Es wird entscheidend sein, dass wir die Ressourcen schnell einsetzen können. Wir brauchen sie jetzt, nicht erst, wenn die Impfstoffe kommen.

Kann man eine globale Logistik für einen Impfstoff aufbauen, der wie der von Pfizer und Biontech bei minus 70 Grad gekühlt werden muss?

In begrenztem Maßstab geht das. Wir arbeiten gerade mit der WHO zusammen, um Länder zu identifizieren, die ihre Fähigkeit zum Einsatz dieses Impfstoff schnell verbessern können. Das beinhaltet auch Kühlketten. Die aber werden den großflächigen Einsatz diese Impfstoffes beschränken. Aber in solchen Mengen wird er in Entwicklungsländern ohnehin nicht zur Verfügung stehen. Und ich erwarte, dass wir in den nächsten Monaten drei, vier oder fünf Impfstoffe haben werden. Dann können wir die Impfstoffe mit den Fähigkeiten der einzelnen Länder abgleichen. Mit denen, die kompliziert gekühlt werden müssen, kann man immer noch Ärzte und Gesundheitspersonal in den Großstädten impfen.

In den Industrieländern könnte die Pandemie 2021 wegen der Impfungen zu Ende sein, in Entwicklungsländern aus Mangel an Impfungen weiter grassieren. Droht das?

Der Einsatz von Impfstoffen ist zunächst nicht dafür gedacht, die Ausbreitung des Virus in Entwicklungsländern zu stoppen. Sie sollen Mitarbeitende im Gesundheitswesen schützen, die die Hauptlast der Pandemie tragen. Und sie sollen verhindern, dass Menschen sterben. Das ist unsere wichtigste Botschaft: Trotz der Hoffnung und des Optimismus rund um die Impfstoffe sollten die nicht dazu führen, dass wir die Hände in den Schoß legen. Die Leute dürfen nicht glauben: Jetzt haben wir die Impf-Wunderwaffe, wir müssen also keine Masken mehr tragen, die Hände nicht mehr waschen und keinen Abstand mehr halten.

Sie scheinen es sehr gelassen hinzunehmen, dass die Entwicklungsländer nur ein Bruchteil ihrer Bevölkerung impfen können. Obwohl sie in vielen dieser Länder die Impfungen organisieren müssen …

… in 92 Ländern, um genau zu sein. Eine ziemlich große Aufgabe, ja. Aber ich bin nicht gelassen, ich bin besorgt. Impfstoffe werden in Länder mit niedrigem Einkommen nicht so schnell verfügbar sein wie in reichen Ländern, damit müssen wir umgehen. Ich hoffe eben sehr, dass die Entwicklungsländer ihre Impfdosen, die für 20 Prozent ihrer Bevölkerung reicht, 2021 auch wirklich bekommen. Und dann gehen die Herausforderungen für uns erst richtig los: Wir müssen sie schnell und gerecht in den Ländern verteilen.

In vielen Ländern impft Unicef als einzige Organisation und dann oft Kinder gegen vermeidbare Krankheiten.

Das macht mir wirklich schlaflose Nächte: Müssen wir uns bei den Impfungen gegen Covid-19 so sehr verausgaben, dass wir Impfungen gegen andere vermeidbare Krankheiten gefährden? Unsere Exekutivdirektorin Henrietta Holsman Fore betont permanent: Wir dürfen nicht die eine Gesundheitskrise auf Kosten einer anderen bekämpfen. Wir müssen beides gleichzeitig tun: Uns mit der Unterbrechung der Impfprogramme gegen vermeidbare Krankheiten befassen und gleichzeitig die effiziente Auslieferung der Covid-19-Impfstoffe planen. Wenn wir das mit den gleichen Ressourcen wie bisher machen, dann werden wir das nicht schaffen. Wir brauchen dringend mehr Mittel.

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