Robin Alexander über SCHICKSAL : Gott wohnt nicht an meinem Schambein
Lesen Sie diesen Text, und Sie werden sich entspannt fühlen. Hoffentlich.
Bitte lesen Sie diesen Text nicht einfach nur so, während sie in ein Brötchen beißen oder Kaffee trinken. Nehmen Sie sich Zeit für diesen Text. Lesen Sie langsam. Nehmen Sie ihn bewusst wahr – Wort für Wort. Entspannen Sie Ihren Geist und lassen Sie Ihren Körper die Lesearbeit in seinem natürlichen Rhythmus verrichten: Ihre Augen gehen langsam von links nach rechts. Am Ende der Zeile gehen Sie sanft nur eine kleine Zeile nach unten und beginnen wieder links. Bei jedem Satzzeichen schenken Sie sich selbst eine Pause. Und atmen. Ein Satz. Atmen. Ein Satz. Atmen.
Na? Eingeschlafen? Macht nichts! Das ging mir am vergangenen Montag beinahe auch so. Aus Gründen, die hier weder offenbart werden sollen noch dürfen, besuchte ich gemeinsam mit meiner Freundin und einem knappen Dutzend anderer Paare einen Kurs, der mit Entspannungsübungen beginnen sollte.
Das war doch mal ein Versprechen: Entspannung! Entspannung ist etwas Grundgutes, dem jeder, wirklich jeder zustimmen kann. Entspannung steht in einer Reihe mit Weihnachten, Sex und Freibier. Obwohl: „Weihnachten finde ich blöd!“, kann man sagen. Oder: „Sex bedeutet mir nichts.“ Und sogar: „Ach, Freibier …“ Aber „Scheiß auf Entspannung! Ist doch was für Spießer!“ fällt noch aus dem Rahmen der gesellschaftlich akzeptierten Meinungsäußerungen. In glücklicheren Zeiten hatten wir sogar einmal einen Bundeskanzler, der „Entspannungspolitik“ betrieben hat. Dafür hat er zu Recht den Nobelpreis bekommen.
„Zuerst werde ich euch mit ein paar einfachen Entspannungstechniken vertraut machen“, hat die Kursleiterin – vom Typ tapfere, kleine Frau – versprochen. Wir setzen uns bequem in den Schneider- oder Lotussitz, schließen die Augen und atmen. Bisher kein Problem. Aus einem CD-Player kommen die traditionellen keltischen Gesänge der Wale beim Besteigen tibetanischer Berge. Na ja, warum nicht? Aber jetzt wird es schwierig:
„Wir folgen unserem Atem. Und jetzt schauen wir nach, ob unsere Stirn schon entspannt ist. Und jetzt unsere Nasennebenhöhlen. Unser Mund. Unser Rachenraum.“
Bei meiner Stirn war ich mir nicht ganz sicher, und in meiner Nebenhöhle habe ich etwas Hässliches entdeckt, aber jetzt ist keine Zeit zu fragen, denn …
„Wir sind jetzt schon im Beckenbereich. Und atmen. Und mit einer ganz kleinen Taschenlampe reisen wir jetzt über unser Schambein.“
Ich finde mit einer ganz kleinen Taschenlampe über mein Schambein zu reisen eher anstrengend. Aber bei der Entspannung gibt es keinen Königsweg. Es gibt Leute, die machen sich ein Bier auf und gucken „Sportschau“. Andere bezahlen geldgierige Ziegen dafür, Gewichte an ihren Hoden zu befestigen. Das muss jeder selbst wissen. Warum also nicht mit der kleinen Taschenlampe über das Schambein reisen?
„So, jetzt haben wir alle unsere Körperteile von innen erkundet. Und jetzt halten wir noch einmal inne, atmen und schauen in unser Inneres und spüren einmal nach, was dort ist.“
Was dort ist? Bei den weiblichen Kursmitgliedern sieht man recht deutlich, was in ihnen drin ist. Aber das ist nicht gemeint. Was ist in uns? Was sollen wir zu Walgesängen und Atemübungen in uns entdecken? Eine Seele? Gott? Die Urmutter?
Ich glaube, in mir ist nichts. Aber die anderen scheinen etwas gefunden zu haben. Heimlich öffne ich die Augen und schaue mich um: Alle lächeln selig mit geschlossenen Augen. Außer einem Dicken, der eingenickt ist. Ich versuche es noch einmal: Augen zu, kleine innere Taschenlampe an und gesucht: Da muss doch was sein, verdammt noch mal. Bin ich den so ein unsensibler Sack? Kann ich mich denn überhaupt gar nicht fallen lassen?
Wenigstens bin ich nicht allein. Robert Gernhardt, der ja eigentlich immer einen eher entspannten Eindruck macht, hat einmal gedichtet:
„Ich horche in mich rein
in mir muss doch was sein
Ich hör nur ,Gacks‘ und ,Gicks‘
In mir, da ist wohl nix.“
Und wie entspannen Sie?
Fragen zur Entspannung? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS